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Von Ausgrenzung und einem tiefgreifenden Wandel

Hamburg, 06.02.2014. Podiumsdiskussion zum Buch „Mitten in Hamburg“


Wie sah das Leben von Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft in den 1950-er und 70-er Jahren aus? Zu dieser Frage gab es eine Podiumsdiskussion im Hamburg Museum im Rahmen des Begleitprogrammes zur Ausstellung ›Geht doch!‹. Die inhaltliche Grundlage dieses Themas bildete das Buch ‚Mitten in Hamburg‘ - Die Alsterdorfer Anstalten von 1945 bis 1979, das von der Ev. Stiftung Alsterdorf zu ihrem 150- jährigen Jubiläum 2013 produziert wurde.

 

Vier Experten äußerten sich dazu auf dem Podium: Dr. Michael Wunder, Leiter des Beratungszentrums der Ev. Stiftung Alsterdorf, Gerda Engelbracht und Dr. Andrea Hauser, Kulturwissenschaftlerinnen und Autorinnen des Buches ‚Mitten in Hamburg‘ und Dr. Dietrich Kuhlbrodt, Jurist, Autor und ehemaliger Staatsanwalt. Moderator und Journalist Burkardt Plemper führte durch den Abend.

 

Ausgrenzung und drakonische Strafen

„In der Gesellschaft der 50-er Jahre gab es noch keine Bereitschaft, Menschen mit Behinderung aufzunehmen. Sie wurden weiterhin in Anstalten aussortiert. Dies war auch noch eine Hypothek der menschenverachtenden Ideologie des Nationalsozialismus, “ beschreibt die Kulturwissenschaftlerin Dr. Andrea Hauser die Zeit der 1950-er Jahre. Sie und ihre Kollegin Gerda Engelbracht, die Autorinnen des Buches ‚Mitten in Hamburg‘, hatten im Archiv der heutigen Evangelischen Stiftung Alsterdorf nach Berichten und Akten aus dieser Zeit recherchiert, Zeitzeugen interviewt, viele zusätzliche historische Quellen ausgewertet und im Austausch mit anderen Experten zu diesem Thema gestanden. Dabei kam zu Tage, wie bedrückend der Lebensraum in der Abgeschlossenheit der Anstalten und in der Enge der damaligen Schlafsäle war und wie erschreckend die drakonischen Strafen waren, wenn damalige Bewohnerinnen und Bewohner der Anstalten zum Bespiel zu spät kamen oder sich Anweisungen widersetzten. Vor körperlicher Züchtigung durch Schläge und kalte Bäder wurde nicht zurückgeschreckt. „Aber diese Methoden wurde nicht von allen Mitarbeitenden angewendet. Es gab durchaus Mitarbeitende, die versuchten, trotz der schlechten Arbeitsbedingungen, das Beste für die Bewohner der Anstalten zu machen, “ differenzierte Andrea Hauser die Sichtweise.

 

Vergebung für die Täter

Versuche von Julius Jensen, dem Direktor der Alsterdorfer Anstalten von 1955 bis 1968, in den 60-er Jahren die Vergangenheit der Anstalten im Nationalsozialismus aufzuarbeiten, traf beim damaligen Aufsichtsgremium der Anstalten und in Kirchenkreisen auf keine Unterstützung und wurde abgeblockt.

 

„Die Vorkommnisse in der NS-Zeit hier in Alsterdorf und auch in vielen anderen Einrichtungen damals in Hamburg wurden verschwiegen“; schildert Michael Wunder. Dies bestätigte auch der ehemalige Staatsanwalt Dr. Dietrich Kuhlbrodt: „Ich hatte Beweise für die individuelle Schuld des damaligen Direktors während der NS-Zeit Pastor Lensch für das Ermittlungsverfahren gesammelt. Aber das Verfahren wurde von der großen Strafkammer abgewiesen. Später erfuhr ich, dass einer der Richter mit Lensch privat in Verbindung stand.“

 

In Kreisen der Kirche argumentierte man, dass auch Vergebung für die Täter praktiziert werden müsste, damit sie eine Chance erhielten, um als gute Christen wieder in die Gesellschaft zu finden. Unter diesen Bedingungen war eine offene Auseinandersetzung und Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Institutionen und auch in der Gesellschaft nicht möglich.

 

Selbstorganisation und Protest gegen autoritäre Strukturen

In den 70-er Jahren änderte sich gesellschaftliche die Stimmung gegenüber autoritären Strukturen und Bevormundung durch Institutionen. Die durch die Studentenrevolte ausgelösten Proteste machten auch nicht vor den Toren der damaligen Alsterdorfer Anstalten halt. „Initiativen wie die Krüppelbewegung, eine Selbstorganisation von Menschen mit Behinderung, übte Druck auf Politik und Institutionen aus und es entwickelten sich neue pädagogische Konzepte, in denen es um die Bedürfnisse der Menschen mit Behinderung ging;“ beschreibt Gerda Engelbracht die Veränderungen in den 70-er Jahren.

 

Mit einer gewissen Zeitverzögerung bildete sich in Alsterdorf der Kollegenkreis, ein Zusammenschluss von kritischen Mitarbeitern, der die unhaltbaren Lebensbedingungen anprangerte und an die Öffentlichkeit brachte. Bis dahin lebte man in den Anstalten wie auf einer Insel und nun zogen diese neuen und revolutionären Ideen in die Anstalten ein und veränderten den gemeinsamen Umgang grundlegend.

 

„An der Schwelle zu neuem Zusammenleben“

„Heute, 30 Jahre später, stehen wir durch die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen an der Schwelle zu einem gleichberechtigten Zusammenleben“, beschrieb Andrea Hauser die aktuelle Situation. Michael Wunder ergänzte dazu: „Wir sind auf einem guten Weg, aber es liegt noch ein ziemlicher Weg des Umdenken vor uns, von „Du bist behindert“ hin zu „Du wirst behindert“.

 

In der anschließenden Diskussion mit dem Publikum stand das Thema Entschädigung ehemaliger Anstaltsbewohner, die Opfern von Gewalt wurden, im Mittelpunkt.

 

Als ein wichtiges positives Signal wurde die Entschuldigung des heutigen Vorstandsvorsitzenden Prof. Hanns-Stephan Haas bei den Opfern von Gewalt der damaligen Alsterdorfer Anstalten gewertet, die auch im Vorwort des Buches enthalten ist. Ebenso wurden die ersten Schritte der heutigen Evangelischen Stiftung Alsterdorf im Rahmen der Aufarbeitung von Unrecht und Gewalt  gewürdigt. Aber es müssen weitere zeitnah folgen, da die damaligen betroffenen Bewohnerinnen und Bewohner teilweise schon sehr betagt seien und möglicherweise nicht mehr in den Genuss einer solchen Geste kämen.

 

Das 328 Seite starke Buch „Mitten in Hamburg. Die Alsterdorfer Anstalten 1945-1979“ von Gerda Engelbracht und Dr. Andrea Hauser ist im Kohlhammer Verlag erschienen und ist für 19,90 Euro im Buchhandel erhältlich (ISBN 978-3-17-0233959-0).

Erstellungsdatum 13.02.2014