- 1899 - 1932

Schwierige Zeiten
Pastor Paul Stritter, der Nachfolger Sengelmanns, passt zunächst den Ausbau der Anstalten der allgemeinen wirtschaftlichen und technischen Entwicklung des neuen Jahrhunderts an. Er lässt große massive Wohnhäuser bauen mit Schlafsälen für bis zu 100 Personen. Die Alsterdorfer brauchen Platz, denn in nur 15 Jahren nach Sengelmanns Tod werden weitere 400 Personen aufgenommen. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 leben 1.000 Menschen in den Anstalten. Die Zeit des Krieges und der Inflation danach bewältigen sie dank eigener leistungsfähiger Landwirtschaft ohne Hungersnot – die Einrichtung ist weitgehend Selbstversorger. Allerdings fordern Grippe- und Tuberkulose-Epidemien mehr als 300 Todesopfer.
Medizin statt Pädagogik
1913 schenkt der Hamburger Senat anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Stiftung ein neues Schulhaus. Es wird im März 1914 seiner Bestimmung übergeben. Drei Monate später beginnt der Erste Weltkrieg. Der regelmäßige Schulunterricht wird eingestellt, das Gebäude als Militärlazarett hergerichtet. Zwar beginnt 1918 wieder ein begrenzter Unterricht, die Schule erhält ihre personelle und räumliche Ausstattung jedoch nicht wieder. Die Pädagogik hat bei den Verantwortlichen nicht mehr die Priorität wie zu Sengelmanns Zeiten – sie setzen verstärkt auf Forschung und medizinische Behandlungs- und Heilmethoden. Schulleiter Johannes Paul Gerhard verlässt 1920 enttäuscht die Stiftung.
Sozialdarwinismus
1920 erscheint auf dem Büchermarkt ein schmaler und doch wirkungsmächtiger Band: "Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens". Autoren sind der Strafrechtler Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche. Ihr Gedankengut hat seine Wurzeln im so genannten Sozialdarwinismus, der um die Jahrhundertwende in Deutschland rasche Verbreitung findet. Seine Anhänger übertragen die Theorie Darwins, wonach das Kranke und Schwache in der Natur durch natürliche Auslese zugrunde geht, auf gesellschaftliche Verhältnisse. Durch systematische Auswahl "wertvollen" Erbgutes wollen sie eine Verbesserung der eigenen „Rasse“ erzielen, indem sie "minderwertiges" Erbgut auslöschen. Aus Kosten- und Nützlichkeitsgründen fordern die Autoren die Tötung unheilbar Kranker und die Vernichtung "lebensunwerten" Lebens. Die politisch wie wirtschaftlich schwierigen 20er Jahre erweisen sich als geeigneter Nährboden für diese radikalen Thesen – trotz teils energischer Proteste aus Fachkreisen.
Ende der dörflichen Idylle
Die Alsterdorfer haben zunächst andere Sorgen: Die Stadt Hamburg kommt näher. Ein Grundsatz der Stiftungsarbeit – das Leben fernab von den "Anfechtungen der Großstadt" – wird damit hinfällig. Die Anstalten verkaufen landwirtschaftlich genutztes Gelände in Alsterdorf und erwerben mit dem Erlös das "Adelige Gut Stegen" am oberen Alsterlauf. Stritter hat vor, die gesamte Einrichtung umzusiedeln, was sich dann jedoch als finanziell nicht durchführbar erweist. So wird das 250 Hektar große Gut Stegen die erste landwirtschaftliche Außenstelle. 1930 geht Paul Stritter in den Ruhestand. In seine Amtszeit fällt der erste grundlegende Paradigmenwechsel der Behindertenhilfe: Die immer stärker werdende Dominanz der Medizin zu Lasten der Pädagogik. Gegen Ende der 20er Jahre ist jeder Ausbau der Versorgung eng gekoppelt mit ärztlichen Sichtweisen und medizinischen Heilungsgedanken.