Erinnern für die Zukunft

Der 8. Mai, der Tag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa, steht bei der Evangelischen Stiftung Alsterdorf (ESA) seit vielen Jahren im Zeichen des Gedenkens an die 630 Menschen mit Behinderung, die während der Zeit des Nationalsozialismus aus den damaligen Alsterdorfer Anstalten in Tötungsanstalten gebracht wurden. 513 von ihnen wurden nachweislich ermordet.

Mit einem Gottesdienst in der Stiftungskirche St. Nicolaus, gedachten Vorstand, Mitarbeitende, Angehörige und zahlreiche Gäste auch heute der aus Alsterdorf deportierten Menschen und erinnerten an das Leid der Familien, die eine Angehörige oder einen Angehörigen durch die NS-‚Euthanasie‘ verloren haben.

Stefani Burmeister eröffnete im Namen des Vorstands den Gottesdienst. Sie zeigte sich tief beeindruckt von den Schüler*innen der fachschule für soziale arbeit, die vor der Kirche und zum Einzug in den Gottesdienst schwarze Fahnen mit den Namen der aus Alsterdorf deportierten Menschen trugen. „Heute ist ein ganz wichtiger Tag für unsere Stiftung. Wir müssen aufmerksam sein und mit unserer Haltung zeigen, dass so etwas nie wieder passiert“, so Stefani Burmeister.

Pastor Uwe Mletzko, Vorstandsvorsitzender der ESA stellte Psalm 8 des Neuen Testaments in den Mittelpunkt seiner Predigt: „Welch mutiger Bibeltext an diesem Tag und in dieser Zeit, wo die Menschenwürde, ja letztlich das Angesicht von Menschen anscheinend nicht mehr schützenswert scheint. In einer Zeit von scheinbar vielen gescheiterten Versuchen, Menschenrechte und Menschenwürde einzufordern. Weit weg schauen wir in ferne, uns unbekannte Länder und kaum um die Ecke schauen wir in unsere Nachbarschaft. Wir erahnen etwas von den unzählbaren Ungerechtigkeiten, mit denen Menschen leben müssen. Wir sind enttäuscht, dass die singulären, allen zustehenden gleichen und unveräußerlichen Rechte zahlreichen Personen verwehrt bleiben. Sogar vor der eigenen Haustür beginnen die Rechte der Menschen ins Wanken zu geraten. Oder sind sie schon längst gekippt?“

Bei der anschließenden Kranzniederlegung am Lern- und Gedenkort der Stiftung sprachen Katharina Fegebank, Hamburgs Zweite Bürgermeisterin, Hauptpastor Dr. Jens-Martin Kruse, Pastor Uwe Mletzko sowie Dennis Wendel, Vorsitzender der Gesamtmitarbeitendenvertretung der ESA, Gedenkworte.

Katharina Fegebank: „Tage wie heute machen uns auf so unerbittliche Weise deutlich, wozu der Mensch fähig ist. Wir müssen uns immer wieder vor Augen führen, dass das, was während des Nationalsozialismus passiert ist, wieder passieren kann. Wir müssen aufmerksam und wachsam sein. Wir müssen in Nächstenliebe miteinander umgehen und gleichzeitig nach Artikel 1 unseres Grundgesetzes sagen: Die Würde des Menschen ist unantastbar! Das muss ein Grundprinzip für uns alle sein.“

Hauptpastor Dr. Jens-Martin Kruse: „Wie können Menschen der Anmaßung verfallen, sich zum Herrn über das Leben von anderen zu machen? Schwestern und Pfleger, Ärzte und Pastoren haben es nicht nur zugelassen, sondern aktiv daran mitgewirkt, dass die ihnen anvertrauten Menschen wie Vieh verladen und in Arbeits- und Vernichtungslager abtransportiert wurden. Das Entsetzen führt zu der Einsicht, dass wir Menschen bedroht sind, dass wir verführbar sind. Wir befinden uns heute wieder in einer entscheidenden Zeit. Wieder drohen menschenfeindliche Einstellungen nicht nur am Rand, sondern in der Mitte unserer Gesellschaft auf Akzeptanz zu stoßen. Wir dürfen nicht erneut versagen!“

Pastor Uwe Mletzko: „In einer Zeit, in der die Ideologie des Nationalsozialismus die Würde und das Leben von Millionen von Menschen in Frage stellte, hätte die Evangelische Stiftung Alsterdorf ein Ort der Zuflucht und Hoffnung sein können für diejenigen, deren Würde verletzt ist. Das leider hat sich nicht eingestellt. Mehr noch wurde hundertfach die Würde von Menschen mit Behinderungen missachtet, mit Füßen getreten. Wir sind voll Scham und wir entschuldigen uns für das, was hier im Namen Gottes und im Namen Alsterdorfs passierte. Deshalb erinnern wir uns daran, wie wichtig es ist, die Würde jedes einzelnen Menschen zu respektieren und zu schützen, unabhängig von seinen körperlichen oder geistigen Fähigkeiten. Heute steht die Evangelische Stiftung Alsterdorf weiterhin für die Werte der Vielfalt und Inklusion ein. Menschen mit Behinderungen sind ein integraler Bestandteil unserer Gesellschaft und wir alle in der ESA haben eine Verantwortung, eine Umgebung zu schaffen, in der jeder Mensch sein volles Potenzial entfalten kann.“

Dennis Wendel: „Wir sind es den Opfern schuldig, ihrer zu gedenken und ihre Würde zurückzugeben, indem wir ihre Namen nicht in Vergessenheit geraten lassen. Knapp 80 Jahre sind seit dem Ende des Nationalsozialismus vergangen. Wir wissen, wohin Ausgrenzung, Menschenverachtung und völkische Ideologie führen können. An Gedenktagen wie diesem überprüfen wir unseren eigenen moralischen Kompass, um uns auf unserem Weg möglichst weit weg von dunklen Abgründen zu bewegen. Lasst uns zusammenstehen und deutlich machen, dass unsere Kompassnadel in Richtung Vielfalt, Selbstbestimmung und Inklusion steht.“

Anschließend ging es in St. Nicolaus weiter mit einem Vortrag von Dr. Ulrich Mechler, Archivar der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. Er befasste sich mit dem Thema: „Psychiatrische Gutachten und Zwangssterilisationen in Hamburg“. Er fokussierte sich in dem Vortrag auf die medizinischen Strukturen der damaligen Zeit und wie psychiatrische Gutachten genutzt wurden, um Zwangssterilisationen formal zu legitimieren. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, wie sehr die Ärzte von politischen und rassehygienischen Vorgaben geprägt waren. Auch waren die Gutachten ein Mittel für die ausstellenden Ärzte, um ihre Karriere nach vorne zu bringen.

Musikalisch begleitet wurden der Gottesdienst die nachfolgende Kranzniederlegung von Carsten Schnathorst, Künstler der barner16, sowie von Günter Kochan an der Orgel.

 

Ochsenzoller Nachmittag

Hamburgs Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer eröffnete am Nachmittag den zweiten Teil des Gedenktages in der Asklepios Klinik Nord – Ochsenzoll. In ihrem Grußwort fand sie passende Worte für die aktuelle politische und gesellschaftliche Situation: „Es fängt nie erst mit Konzentrationslagern an, sondern im Kleinen“. Sie rief zur Teilnahme Demonstrationen für Demokratie und Vielfalt auf, denn „mit Denken ändert sich nichts in der Gesellschaft, erst durch Handeln“.

Wie kann eine Gesellschaft frei von Rassismus aussehen? Wie kann sie erreicht werden? Ist sie ein Versprechen der Demokratie? Diese Fragen standen dann im Fokus des fesselnden Vortrages von Prof. Dr. Lorenz Narku Laing, Evangelische Hochschule Bochum.

An vielen persönlichen Beispielen wie wissenschaftlichen Belegen stellte er auf humorvolle Art die Vielschichtigkeit von Rassismus in unserer Gesellschaft dar. Für ihn ist Rassismus wesentlich Diskriminierung, der Mangel an Chancen zur Teilhabe und Rechten.

Das Gedenken am 8. Mai unter dem Motto „Erinnern für die Zukunft“ ist eine gemeinsame Veranstaltung der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, der Asklepios Klinik Nord Ochsenzoll, der Evangelischen Akademie der Nordkirche und der Stiftung Freundeskreis.

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