In den Morgenstunden des 3. Februar 1899 stirbt im Alter von 78 Jahren Heinrich Matthias Sengelmann, der Gründer der Alsterdorfer Anstalten – heute Evangelische Stiftung Alsterdorf. Sengelmann hinterlässt ein Lebenswerk, das seine Nachfolger weiter ausbauen und das heute zu den großen Einrichtungen der Diakonie in Deutschland zählt. Wer war dieser vielseitige und vielschichtige – wohl auch eigenwillige – Mann?
Heinrich Matthias Sengelmann wird am 25. Mai 1821 in Hamburg am Schweinemarkt (heute Hauptbahnhof, Beginn der Spitalerstraße) geboren. Er ist der einzige Sohn des Gastwirts und Viehhändlers Jochen Hinrich Sengelmann und seiner Frau Margarethe. Heinrich wächst am geschäftigen Schweinemarkt auf und besucht die Gelehrtenschule Johanneum. Angeregt durch seine Mutter und Großmutter geht er in die Gottesdienste des stadtbekannten Predigers Johann Wilhelm Rautenberg, der seine Gemeinde in St. Georg immer wieder zu diakonischer Mitverantwortung aufruft. Die Gedanken und Initiativen der „Erweckungsbewegung“ werden Sengelmanns weiteren Lebensweg prägen.
Nach erfolgreichem Abschluss des Johanneums studiert er in Leipzig, später in Halle orientalische Sprachen, die ihn faszinieren, und Theologie. 1843 beendet er mit 22 Jahren sein Studium als Doktor der Philosophie und besteht noch im gleichen Jahr das theologische Staatsexamen. Nach Jahren als Hauslehrer in bürgerlichen Hamburger Familien und Lehrer an Rautenbergs Sonntagsschule übernimmt er 1846 seine erste Pfarrstelle in der Elbgemeinde Moorfleet. Im gleichen Jahr heiratet er Anna Sophia Adele von Saß, eine russische Adelige. Diese Beziehung endet tragisch: Der einzige Sohn wird nur wenige Monate alt, Adele Sengelmann stirbt 1858. Seine zweite Frau, Jane Elisabeth – kurz Jenny – Sengelmann, geb. von Ahsen, heiratet er ein Jahr darauf. Sie lebt später mit ihm auf dem Stiftungsgelände und unterstützt ihn tatkräftig bei der Leitung der Alsterdorfer Anstalten.
1874 initiiert und gründet Sengelmann gemeinsam mit anderen Einrichtungsleitern in Berlin die „Conferenz der Idioten-Heil-Pflege“. Er wird ihr erster Präsident und übt dieses Amt mehr als zwanzig Jahre aus. Die Konferenz ist Vorläufer des heutigen Bundesverbandes Evangelischer Behindertenhilfe. Parallel zu seinen praktischen Erfahrungen mit geistig behinderten Menschen beschäftigt sich Sengelmann eingehend mit grundsätzlichen Fragen des „Idiotenwesens“. Die Ergebnisse seiner Studien und Erfahrungen fasst er in seinem 1885 veröffentlichten „Systematischen Lehrbuch der Idiotenheilpflege“, dem „Idiothophilus“, zusammen. Etwa ein Drittel des Jahres ist Sengelmann unterwegs: Seine Reisen ermöglichen ihm den „Blick über den Zaun“. Und er macht mit seinen Predigten und Vorträgen die Verantwortlichen aus Kirche und Politik auf seine Arbeit und ihre Mitverantwortung aufmerksam. Auf seinen Reisen im gesamten deutschen Raum, aber auch nach Dänemark, Holland, Norwegen, Russland und sogar nach Südamerika geht es immer auch darum, Spenden zu sammeln. Während seiner Abwesenheit vertritt ihn in Alsterdorf die „Frau Direktor“, seine Frau Jenny.
Seine laufende Arbeit finanziert Sengelmann aus Erträgen der eigenen Landwirtschaften und Betriebe, Beiträgen der Eltern seiner Bewohner, Kostgeldern des Staates und Spenden. Tatsächlich gelingt es ihm immer wieder, auch Mittel für notwendige Neubauten zu beschaffen. So anlässlich seines 50-jährigen Dienstjubiläums 1896, als er mit Senatsgaben und Spenden die Gründung des heutigen Evangelischen Krankenhauses Alsterdorf auf dem Stiftungsgelände realisiert. Es ist sein letztes großes Werk.
Als Heinrich Matthias Sengelmann stirbt, leben mehr als 600 geistig, körperlich und seelisch behinderte Kinder und Erwachsene in seinen Einrichtungen. Hinzu kommen 140 Mitarbeitende, die – meist mit ihren Familien – ebenfalls auf dem Anstaltsgelände leben. Viele Menschen in Hamburg trauern mit seiner Gemeinde um diesen großen Sohn der Stadt, der ihnen behinderte Menschen als „Kleinode Gottes“ nahegebracht und ihre Mitverantwortung erfolgreich mobilisiert hat. Manche seiner Gedanken waren ihrer Zeit voraus: Viele der Visionen Sengelmanns konnten erst in den zurückliegenden Jahrzehnten verwirklicht werden.
1859 wird die 27-jährige Jane Elisabeth von Ahsen die zweite Ehefrau von Heinrich Matthias Sengelmann. Als er 1867 sein Predigeramt am Michel aufgibt, folgt ihm seine hochmusikalische Frau gern in die ländliche Abgeschiedenheit nach Alsterdorf. Mit ihren praktischen Fähigkeiten und ihrem unermüdlichen Fleiß wirkt sie tatkräftig am Aufbau der Alsterdorfer Anstalten mit. Nicht nur ihre Gabe, geistig behinderte Menschen anzuleiten und zu beschäftigen, ist dabei von Nutzen. In den Kleider- und Schuhlagern, in Wäscherei, Nähstube und Küche ist sie die treibende Kraft. Der eine oder andere stört sich an ihrem emanzipierten Auftreten und ihrer Wahrheitsliebe. Bequem ist sie nicht. Nach dem Tode ihres Mannes lässt sich Jenny Sengelmann in der Nähe der Anstalten nieder und nimmt weiterhin regen Anteil am Leben im „Asyl“ für behinderte Menschen, wie sie und Sengelmann die „Anstalten“ nennen. 1913 – wenige Wochen vor dem 50. Anstaltsjubiläum – stirbt sie im Alter von 82 Jahren. Sie wird im Familiengrab der Sengelmanns auf dem Kirchfriedhof in Moorfleet beigesetzt.
Über das Leben von Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung in früheren Jahrhunderten wissen wir wenig. Dokumentiert sind Verfolgungen, Isolation und Tötungen. Im 17. und 18. Jahrhundert kommt mit ersten klinischen Berichten der Gedanke auf, die Entwicklungsmöglichkeiten jener Menschen seien zu beeinflussen. Aber erst im 19. Jahrhundert wächst das Verantwortungsbewusstsein für diese Personenkreise. Überall in Europa versuchen in jener Zeit engagierte Christen – Theologen, Pädagogen, Mediziner – deren Lebenssituation zu verändern. Fast alle großen diakonischen Einrichtungen der Behindertenhilfe, die es heute in der Bundesrepublik gibt, sind in den Jahren seit 1848 entstanden.
Die Anfänge der Evangelischen Stiftung Alsterdorf gehen zurück auf das Jahr 1850. Am 16. April gründet der junge Pastor Heinrich Matthias Sengelmann in seinem Pfarrhof der kleinen Elbgemeinde Moorfleet eine „Christliche Arbeitsschule“. Er nimmt sozial benachteiligte Kinder auf, unterrichtet sie in Kulturtechniken und vermittelt ihnen Kenntnisse und Fertigkeiten in Handwerk und Landwirtschaft. Als er 1853 Pastor an der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis wird, wandelt er seine Arbeitsschule in das „St. Nikolai-Stift“ um. 1860 kauft Sengelmann den Alten Brauhof in Alsterdorf und verlegt das Stift dorthin. Nach Aufbau einer Gartenbauschule gründet er die Alsterdorfer Anstalten.
Als Seelsorger an der St. Michaelis-Kirche besucht Sengelmann häufig das Hamburger Gängeviertel. In den ärmlichen Wohnquartieren aus dem 17. Jahrhundert trifft er auf den geistig behinderten Carl Koops. Sengelmann erkennt die fehlenden Entwicklungschancen des Jungen. Nach vergeblichen Versuchen, für ihn eine Pflegefamilie zu finden, startet der Theologe einen Spendenaufruf zur Gründung eines Asyls. Mit dem Geld kauft er weiteres Gelände in Alsterdorf und baut ein kleines Fachwerkhaus, in das am 19. Oktober 1863 vier geistig behinderte Jungen und ein Hausvater einziehen. Die Behindertenbetreuung wird bald Schwerpunkt der Alsterdorfer Arbeit. 1867 gibt Sengelmann sein Predigeramt am Michel auf, um als unbesoldeter Direktor den Ausbau der Anstalten zu gestalten. Durch Erbschaften ein vermögender Mann geworden, bringt er sein gesamtes Privatvermögen als Darlehen, später als Erbe in die Stiftung ein.
Der Ausbau der Alsterdorfer Anstalten beginnt. Gleichzeitig wird die Ausbildung der Mitarbeitenden stetig verbessert. Auf der Grundlage des damaligen Wissensstandes werden erste pädagogische Programme entwickelt. Sengelmanns Auffassung von Bildungsfähigkeit ist weit gefasst: Er beschult geistig behinderte Menschen und beschäftigt sie in Werkstätten, Gärtnerei und Landwirtschaft. 1895 holt er einen der führenden Heilpädagogen seiner Zeit, den Lehrer Johannes Paul Gerhard, nach Alsterdorf. Dieser baut die Schule – Vorläufer der heutigen Bugenhagen-Schulen – innerhalb weniger Jahre zu einer heilpädagogischen Musterschule aus, die weit über die Grenzen Hamburgs hinaus bekannt wird. Als Sengelmann 1899 stirbt, leben mehr als 600 geistig, körperlich und seelisch behinderte Menschen sowie 140 Mitarbeitende und ihre Familien in den Alsterdorfer Anstalten.
Pastor Paul Stritter, der Nachfolger Sengelmanns, passt zunächst den Ausbau der Anstalten der allgemeinen wirtschaftlichen und technischen Entwicklung des neuen Jahrhunderts an. Er lässt große massive Wohnhäuser bauen mit Schlafsälen für bis zu 100 Personen. Die Alsterdorfer brauchen Platz, denn in nur 15 Jahren nach Sengelmanns Tod werden weitere 400 Personen aufgenommen. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 leben 1.000 Menschen in den Anstalten. Die Zeit des Krieges und der Inflation danach bewältigen sie dank eigener leistungsfähiger Landwirtschaft ohne Hungersnot – die Einrichtung ist weitgehend Selbstversorger. Allerdings fordern Grippe- und Tuberkulose-Epidemien mehr als 300 Todesopfer.
1913 schenkt der Hamburger Senat anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Stiftung ein neues Schulhaus. Es wird im März 1914 seiner Bestimmung übergeben. Drei Monate später beginnt der Erste Weltkrieg. Der regelmäßige Schulunterricht wird eingestellt, das Gebäude als Militärlazarett hergerichtet. Zwar beginnt 1918 wieder ein begrenzter Unterricht, die Schule erhält ihre personelle und räumliche Ausstattung jedoch nicht wieder. Die Pädagogik hat bei den Verantwortlichen nicht mehr die Priorität wie zu Sengelmanns Zeiten – sie setzen verstärkt auf Forschung und medizinische Behandlungs- und Heilmethoden. Schulleiter Johannes Paul Gerhard verlässt 1920 enttäuscht die Stiftung.
1920 erscheint auf dem Büchermarkt ein schmaler und doch wirkungsmächtiger Band: „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Autoren sind der Strafrechtler Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche. Ihr Gedankengut hat seine Wurzeln im so genannten Sozialdarwinismus, der um die Jahrhundertwende in Deutschland rasche Verbreitung findet. Seine Anhänger übertragen die Theorie Darwins, wonach das Kranke und Schwache in der Natur durch natürliche Auslese zugrunde geht, auf gesellschaftliche Verhältnisse. Durch systematische Auswahl „wertvollen“ Erbgutes wollen sie eine Verbesserung der eigenen „Rasse“ erzielen, indem sie „minderwertiges“ Erbgut auslöschen. Aus Kosten- und Nützlichkeitsgründen fordern die Autoren die Tötung unheilbar Kranker und die Vernichtung „lebensunwerten“ Lebens. Die politisch wie wirtschaftlich schwierigen 20er Jahre erweisen sich als geeigneter Nährboden für diese radikalen Thesen – trotz teils energischer Proteste aus Fachkreisen.
Die Alsterdorfer haben zunächst andere Sorgen: Die Stadt Hamburg kommt näher. Ein Grundsatz der Stiftungsarbeit – das Leben fernab von den „Anfechtungen der Großstadt“ – wird damit hinfällig. Die Anstalten verkaufen landwirtschaftlich genutztes Gelände in Alsterdorf und erwerben mit dem Erlös das „Adelige Gut Stegen“ am oberen Alsterlauf. Der damalige Direktor Paul Stritter hat vor, die gesamte Einrichtung umzusiedeln, was sich dann jedoch als finanziell nicht durchführbar erweist. So wird das 250 Hektar große Gut Stegen die erste landwirtschaftliche Außenstelle. 1930 geht Paul Stritter in den Ruhestand. In seine Amtszeit fällt der erste grundlegende Paradigmenwechsel der Behindertenhilfe: Die immer stärker werdende Dominanz der Medizin zu Lasten der Pädagogik. Gegen Ende der 20er Jahre ist jeder Ausbau der Versorgung eng gekoppelt mit ärztlichen Sichtweisen und medizinischen Heilungsgedanken.
Die Stiftung wird unter der Leitung von Stritters Nachfolger, Pastor Friedrich Lensch, zur Heil- und Pflegeanstalt, einem „Spezialkrankenhaus für alle Arten geistiger Defektzustände“. Der damalige Oberarzt Dr. Gerhard Kreyenberg entwickelt ein umfassendes Modernisierungskonzept im Sinne des damaligen medizinisch-wissenschaftlichen Fortschritts. Röntgentiefbestrahlungen, Insulin- und Cardiazol-Schockbehandlungen, Dauerbäder, Schlaf- und Fieberkuren sollen geistig behinderten Menschen „Heilung und Linderung“ bringen, so die fälschliche Annahme der Verantwortlichen.
Da nach damaliger Auffassung der Erbfaktor bei der Entstehung von Behinderungen und Erkrankungen eine große Rolle spielt, bekommt die erbbiologische Forschung eine besondere Bedeutung. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von 1933 wird in Alsterdorf begrüßt und in Form von Massensterilisationen in die Tat umgesetzt. Der nationalsozialistische Staat wird in Alsterdorf offenbar voll und ganz bejaht: Die meisten Mitarbeitenden sind Parteigenossen, Mitglieder der SA oder anderer Gliederungen der Partei. Die Anstalten erhalten zahlreiche Auszeichnungen, werden zum „Nationalsozialistischen Musterbetrieb“ erklärt.
Alsterdorf gibt erschütternde Beispiele: 1938 – nur wenige Tage nach dem 75-jährigen Stiftungsjubiläum – werden ohne äußeren Druck 26 jüdische Bewohner in andere Einrichtungen verlegt und dort getötet. Ein Jahr später, die Stiftung hat inzwischen 1.900 Bewohner, laufen die NS- Vernichtungsaktionen an. Schon in „Mein Kampf“ hatte Adolf Hitler das Gedankengut von Binding und Hoche aufgenommen. Jetzt nutzt er die Wirren des Zweiten Weltkrieges für dessen Umsetzung. 1941 werden, ausgewählt von Dr. Kreyenberg, 71 Alsterdorfer, im August 1943 nach den schweren Bombenangriffen auf Hamburg weitere 469 Bewohner in nationalsozialistische Tötungsanstalten deportiert. Hinzu kommen Verlegungen in die Fachabteilung des Krankenhauses Rothenburgsort, wo Kinder Opfer medizinischer Experimente werden. Die meisten Deportierten sind jedoch Erwachsene. „Euthanasie“-Ärzte ermorden sie durch systematisches Verhungernlassen und Überdosierung von Medikamenten. Insgesamt wurden 630 Bewohnerinnen und Bewohner aus den Alsterdorfer Anstalten in Zwischen- oder Tötungsanstalten abtransportiert, darunter auch viele Kinder, alleine neun direkt in die sog. Kinderfachabteilungen. 513 abtransportierte Bewohnerinnen und Bewohner wurden nachweislich getötet, fünf überlebten das Kriegsende und starben kurz danach an Entkräftung, von 34 ist das Schicksal unbekannt. Nur achtzig haben überlebt.
Dorothea Kasten, am 6. Mai. 1907 in Hamburg geboren, erkrankt als Neunjährige an Gehirnhautentzündung. Mit 29 Jahren wird sie in Alsterdorf aufgenommen. Sie kann etwas schreiben und lesen, spielt Harmonium und erledigt einfache Hausarbeiten. Später zieht sie sich immer mehr zurück, braucht Pflege und verliert ihre Arbeitsfähigkeit, ein Umstand, der im August 1943 offenbar zur Auswahl für ihre Deportation in die „Heilanstalt Steinhof“ nach Wien führt. Als ihre Mutter sie dort acht Monate später aufsucht, ist sie auf 33 Kilogramm abgemagert. Die Bitten, ihre Tochter mit nach Hamburg nehmen zu dürfen, lehnen die Ärzte ab. Sie raten ihr, „der Einschläferung“ zuzustimmen. Geleitet von dem Gedanken, ihre Tochter auf diese Weise den Peinigern entreißen zu können, willigt die alte Dame schließlich ein. Dorothea Kasten stirbt am 2. Mai 1944. Gefälschte Todesursache: Lungentuberkulose.
Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sind geprägt vom Wiederaufbau der schwer zerstörten Häuser auf dem Stiftungsgelände. Viele der Gebäude sind lediglich mit Notdächern versehen. Unter der Leitung des neuen Direktors Oberkirchenrat Volkmar Herntrich beginnt eine rege Bautätigkeit: Die Kirchliche Hochschule bekommt ihren Sitz in Alsterdorf. Neubauten für Mitarbeiter und Schwesternschaft sowie die neue Kinderpflegerinnen-Schule entstehen. Das Evangelische Krankenhaus Alsterdorf – im Vorfeld des Krieges ausgebaut und für die umliegende Bevölkerung geöffnet – kann seinen Betrieb fortsetzen. Wirtschaftsgebäude werden instandgesetzt. Die Sonderschule nimmt in provisorischen Baracken ihre Arbeit wieder auf.
Ende der 50er Jahre ist Pastor Julius Jensen der Direktor. Die Stiftung plant in enger Kooperation mit der Stadt Hamburg den Bau der Teilanstalt Stegen, einer 1.000-Betten-Klinik für psychisch kranke Langzeitpatienten vor den Toren Hamburgs (heute: Heinrich-Sengelmann-Kliniken). Die ersten beiden Bauabschnitte mit einem Drittel der ursprünglich geplanten Betten werden in den 60er Jahren realisiert, dann überholen neuere Erkenntnisse die alten Pläne. Anfang der 60er Jahre rücken therapeutische Ansätze wieder in den Vordergrund. Die Systematik, mit der Sengelmann zu seiner Zeit behinderte Menschen gefördert und beschäftigt hatte, ist weitgehend verlorengegangen. Nun werden Beschäftigungstherapie und Arbeitstherapie (heute: alsterarbeit) aufgebaut. Die meisten der 1.200 Bewohner leben jedoch in engen, wenig behindertengerechten Räumlichkeiten. Eine Situation, die gezielte Förderung fast unmöglich macht. Ein Generalbebauungsplan für das Stiftungsgelände soll Abhilfe schaffen. Dem Zeitgeist entsprechend ersetzen drei Hochhäuser die alten Wohngebäude mit zum Teil zwanzigjähriger Verzögerung.
Von 1968 bis 1982 ist Pastor Hans-Georg Schmidt Direktor der Alsterdorfer Anstalten. In seine Amtszeit fallen – neben dem Bau der drei Hochhäuser – weitreichende Entscheidungen. Mit erheblicher finanzieller Unterstützung des Versandhausgründers Werner Otto entsteht auf dem Alsterdorfer Gelände 1974 ein Zentrum zur Früherkennung und Behandlung von Behinderungen: Das Werner Otto Institut verfügt über eine interdisziplinär arbeitende diagnostische und therapeutische Ambulanz, eine kleine Klinik und den ersten Integrationskindergarten in der Hansestadt. Das Sozialpädiatrische Zentrum ist das erste ambulante Angebot der Stiftung für Familien mit behinderten Kindern.
Die Behindertenhilfe der Stiftung ist zu dieser Zeit baulich und personell wie ein Großkrankenhaus organisiert. Medizinische und pflegerische Aspekte dominieren, persönliches Eigentum und Privatsphäre der Bewohner sind ein Privileg, in dessen Genuss nur wenige kommen. Zwar beeinflusst Anfang der 70er Jahre das „Normalisierungsprinzip“ aus Skandinavien auch die Diskussion in Deutschland. Es setzt sich dafür ein, die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung denen anderer Menschen außerhalb von Anstalten oder Einrichtungen der Behindertenhilfe gleichzusetzen und Sonderwelten kontinuierlich abzuschaffen. Das Normalisierungsprinzip setzt sich in den großen Anstalten aber nur zögerlich durch. Immerhin entsteht 1975 in unmittelbarer Nachbarschaft des Stiftungsgeländes die erste Außenwohngruppe. Im gleichen Jahr nimmt die Heilerzieher-Schule ihre Ausbildung auf. Ganzheitliche und pädagogische Sichtweisen kommen mit den Absolventen in die Alltagsarbeit, lassen sich aufgrund des vorhandenen Umfeldes jedoch kaum umsetzen. Forderungen aus der Mitarbeiterschaft nach grundlegenden inhaltlichen Veränderungen – der Umsetzung des Normalisierungsgedankens – werden immer lauter. Ein „Kollegenkreis“ formiert sich.
Die Forderungen der Alsterdorfer Mitarbeitenden Ende der 70er Jahre lesen sich heute wie Selbstverständlichkeiten: Gründung von Wohngruppen in den Stadtteilen, Aufhebung der Geschlechtertrennung in den Wohnungen, Schaffung von Förderangeboten für Menschen mit sehr schweren Behinderungen.
1979 erscheint im renommierten ZEIT-Magazin eine Reportage über die katastrophalen Lebensbedingungen sehr schwer behinderter Menschen in Alsterdorf. Die Reaktion der Öffentlichkeit bringt Stiftungsleitung und aufsichtführende Behörde in massiven Rechtfertigungs- und Erklärungsdruck. Im Kreuzfeuer der Kritik werden die vorhandenen beispielhaften Projekte nicht mehr registriert. Aber der äußere Druck beschleunigt auch die Entwicklung: Der Pflegesatz der Stiftung, bis dahin der niedrigste aller Einrichtungen der Behindertenhilfe in Hamburg, wird durch die damalige Sozialbehörde erhöht. Außerdem wird der Stiftung ein Kredit gewährt, für den Neubau eines Hauses, das die Wohnplatzsituation verbessert. Das sechsstöckige Carl-Koops-Haus wird 1982 eingeweiht und bot ca. 220 Menschen Wohnmöglichkeiten in 2-3-Bettzimmern. Gegenüber der vorhandenen Schlafsaalsituation eine deutliche Verbesserung. Trotzdem gilt das Carl-Koops-Haus schon damals als nicht besonders behindertengerecht.
Anfang der 80er Jahre ziehen zudem immer mehr Wohnverbünde vom Stiftungsgelände in Hamburgs Stadtteile. Eine erste Gruppe siedelt sich im Hamburger Umland an. Die freiwerdenden Räumlichkeiten auf dem Stiftungsgelände ermöglichen eine Auflockerung der Belegung – jahrelang hat die Stiftung einen Aufnahmestopp. Bessere personelle und räumliche Ausstattung, intensive Zuwendung und moderne pädagogische Konzepte verbessern die Lebensbedingungen der geistig behinderten Bewohner in der Stiftung in den 80er Jahren erheblich.
1981 endet auch ein anderes jahrzehntelanges Provisorium: Die Sonderschule zieht aus den Nachkriegsbaracken in einen großräumigen Schulneubau. Jetzt werden – auch wenn sie dem Schulalter zum Teil längst entwachsen sind – sehr schwer behinderte Bewohner eingeschult. Zehn Jahre später endet die Ära der Heim-Sonderschule, denn in der Stiftung leben kaum noch Kinder im schulpflichtigen Alter. Die Verantwortlichen gründen 1989 Hamburgs erste Grundschule mit Integrationsklassen und benennen die Schule nach Johann Bugenhagen, dem Weggefährten Luthers und Kirchen- und Schulreformer. 1995 setzt die Bugenhagen-Schule den Integrationsgedanken auch im Gesamtschulbereich fort. Bereits einige Jahre vorher reformierte sie ihren Sonderschulzweig.
1982 tritt Pastor Hans-Georg Schmidt zurück. Interimsdirektor wird für ein Jahr Lübecks späterer Bischof Karl-Ludwig Kohlwage. 1983 übernimmt der Hamburger Propst Rudi Mondry den Vorsitz im inzwischen dreiköpfigen Vorstand. Mondry sorgt für die Aufarbeitung der Alsterdorfer Geschichte und treibt die konzeptionelle Weiterentwicklung der Behindertenhilfe konsequent voran. Deren Regionalisierung wird 1989 Programm. In seine Amtszeit fällt auch die Änderung des Stiftungsnamens im Jahr 1988. Aus den Alsterdorfer Anstalten wird die Evangelische Stiftung Alsterdorf. In den verschiedenen Arbeitsbereichen der Evangelischen Stiftung Alsterdorf werden Anfang der 90erJahre etwa 1.700 Menschen betreut. Eine Konzentration der Aktivitäten liegt im Hamburger Stadtgebiet und im Umland der Hansestadt.
Anfang der 90er Jahre werden wirtschaftliche Schwierigkeiten deutlich. Seit Jahren sind die Ausgaben der Stiftung höher als die Einnahmen – nicht alle Veränderungen sind refinanziert und es fehlt ein klares Budgetmanagment für die einzelnen Bereiche. Der Spardruck erhöht sich. 1992 diskutieren Mitarbeitende und Öffentlichkeit mit äußerster Schärfe die Gehälter der Alsterdorfer Vorstandsmitglieder. Auf dem Höhepunkt der Kampagne tritt Rudi Mondry zurück. 1993 übernimmt ein vierköpfiger Vorstand die Geschäftsführung. Ab April 1995 führen Vorstandsvorsitzender Rolf Baumbach († 2006) und sein Stellvertreter Wolfgang Kraft (im Amt bis 2009) die Stiftung. Sie leiten mit Unterstützung von Senat, Kirche und Banken eine umfassende Sanierung ein, die zwei Jahre später abgeschlossen ist. Die Zukunftssicherung der Stiftung setzt sich 1998 fort: Vorstand, Mitarbeitervertretung und ÖTV vereinbaren einen gemeinsamen wirtschaftlichen Sanierungsprozess um wieder in neue Projekte investieren zu können. Im „Bündnis für Investition und Beschäftigung“ verzichten alle Mitarbeitenden fünf Jahre lang auf Tariferhöhungen. Damit werden 50 Millionen D-Mark für Neubauprojekte verfügbar. Im Gegenzug verzichtet die Stiftungsleitung auf betriebsbedingte Kündigungen und die Ausgliederung von Betriebsteilen. Die Mitarbeitenden erhalten ein Mitbestimmungsrecht bei den Neuinvestitionen. Das Bündnis endet am 31. Dezember 2003.
Die 90er Jahre: Ein neues Betreuungsgesetz wird am 1. Januar 1992 verabschiedet. Es soll mehr Eigenverantwortung für den einzelnen behinderten Menschen schaffen, besonders in Bezug auf seine Rechtsfähigkeit. Neue Konzepte in der Behindertenhilfe entstehen. Im Zentrum steht der Mensch mit Behinderung, der mit weitestgehender Selbstständigkeit sein Leben mit professioneller Unterstützung planen und entwickeln soll. Dies wird in einem europäischen Gemeinschaftsprojekt zwischen Belgien, den Niederlanden und Deutschland mit dem Titel „Community care“ erprobt. Die Evangelische Stiftung Alsterdorf ist an diesem Projekt beteiligt. Der Grundgedanke dieses Projektes zielt besonders auf die Struktur von Großeinrichtungen ab. Ziel ist es, die vorgehaltenen Angebotsstrukturen in solchen Einrichtungen in flexible, nachfrageorientierte Assistenz und Dienstleistungen umzuwandeln. Der behinderte Mensch im Mittelpunkt kauft sich die ihm gemäßen Assistenz- und Unterstützungsangebote selbst oder durch eine Betreuungsperson ein. Solche Modelle werden in Dänemark und Schweden schon seit den 80er Jahren umgesetzt.
Die Reform des §93 des Bundessozialhilfegesetzes, der in seiner neuen Form 1999 in Kraft tritt, verändert die Situation der Behindertenhilfe erneut. Der hilfebedürftige Mensch wird in den neuen Gesetzestexten zum „Leistungsnehmer“. Pflegeanteile in der Betreuung behinderter Menschen sollen aus dem Pflegesatz herausgerechnet werden und aus den Kassen der Pflegeversicherung finanziert werden. Die Anbieter der Behindertenhilfe müssen ihre Dienstleistungen in Form von präzisen Leistungsbeschreibungen offenlegen.
Der 19. Oktober 2003 war in doppelter Hinsicht ein besonderer Tag für die Stiftung: An diesem Tag vor genau 140 Jahren wurde das Haus Schönbrunn als Heim für zehn Kinder mit geistiger Behinderung, auf dem Gelände im heutigen Stadtteil Alsterdorf eingeweiht. Der Begründer der Stiftung, Pastor Heinrich Matthias Sengelmann, legte damit den Grundstein für die Arbeit der damaligen Alsterdorfer Anstalten und der heutigen Evangelischen Stiftung Alsterdorf.
Mit der gleichzeitigen feierlichen Einweihung des Alsterdorfer Marktes an diesem Tag und der damit verbundenen kompletten Öffnung des Stiftungsgeländes war ein wichtiger historischer Schritt gelungen: Die Umwandlung eines früheren Anstaltsgeländes in einen attraktiven, urbanen Treffpunkt mit Einkaufsmöglichkeiten, Gastronomie und kulturellen Angeboten. Ein neues Herzstück im Stadtteil Alsterdorf entstand und damit verbunden wurden alle Zäune abgebaut.
Unter den Augen der vielen Besucher*innen aus ganz Hamburg und Umgebung durchschnitt die damalige Bürgerschaftspräsidentin Dr. Dorothee Stapelfeldt das rote Band und übergab damit endgültig den neuen Marktplatz der Öffentlichkeit. Rolf Baumbach, der damalige Direktor der Stiftung, hatte sich die Öffnung des Stiftungsgeländes zu seinem ganz persönlichen Thema gemacht. Er machte auf die nun endlich beendete Trennung von Alsterdorfer*innen mit und ohne Behinderungen aufmerksam und hob die neuen Möglichkeiten der Begegnung auf dem Marktplatz hervor. Dies war und ist bundesweit in der Entwicklung der Behindertenhilfe ein einmaliges Projekt. 2005 erhielt der Alsterdorfer Markt dafür den Sonderpreis des DIFA Awards, eine Auszeichnung der Deutschen Immobilien Fonds AG für die besten europäischen Stadtquartiere und als europaweit führendes Beispiel für soziale Integration.
Im Jahr 2005 beschlossen Vorstand und Stiftungsrat, alle Leistungsbereiche der Stiftung in gemeinnützige Betriebsfgesellschaften umzuwandeln. Damit wurden die Kernkompetenzen gestärkt. Seit April 2005 besteht diese Organisationsstruktur. Die Bereiche Schule, Kinder- und Jugendhilfe sowie das Beratungszentrum Alsterdorf und das Betreute Wohnen Hamburg verblieben dabei innerhalb der Holding. Ende des Jahres 2005 wurde die Evangelische Stadtmission Kiel in den Unternehmensverbund der Stiftung aufgenommen.
Heute steht der Mensch mit seinen ihm eigenen Bedürfnissen im Mittelpunkt der Arbeit und seine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Die Dienstleistungen der Stiftung richten sich an dem individuellen Bedarf der Menschen aus. Daher ist die ESA auch im jeweiligen Quartier aktiv, vor Ort, da wo Menschen eine auf sie zugeschnittene Unterstützung brauchen – an mehr als 180 Standorten in Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen.
2010 wurde dazu das Quartiersentwicklungsprojekt Q8 gestartet. Q8 möchte die Entwicklung der Quartiere so unterstützen, dass alle Menschen dort selbstbestimmt und gut versorgt leben können, bis ins hohe Alter, mit oder ohne Handicap. Richtungsweisend ist auch hier die UN-Behindertenrechtskonvention. Sie setzt sich dafür ein, dass die Benachteiligung von Menschen mit Handicap aufhört und diese als vollwertige Bürger der Gesellschaft anerkannt werden.
Im Jahr 2015 hebt die Evangelische Stiftung Alsterdorf als größter diakonischer Dienstgeber in Norddeutschland die formale Kirchenzugehörigkeit für Mitarbeitende auf. Die sogenannte ACK-Klausel setzte bis dahin die Mitgliedschaft von Mitarbeitenden in einer der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen angehörenden Institution voraus. Diese Klausel gilt nicht mehr für die Evangelische Stiftung Alsterdorf (ESA). Die ESA führt damit den Weg zur Inklusion auf arbeitsrechtlicher Ebene fort. „Wir erbringen Dienstleistungen für Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen mit dem Ziel der vollständigen gesellschaftlichen Teilhabe. Das besagt unser Leitbild. Entsprechend gilt dies auch für unsere Mitarbeitenden, gleich welche Überzeugungen sie vertreten“, begründet der damalige Vorstandsvorsitzende der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, Professor Hanns-Stephan Haas, die Entscheidung. „Wir unterstützen weiterhin die freiwillige Mitgliedschaft in einer christlichen Kirche in unserer Belegschaft, sie ist aber keine Zugangsvoraussetzung mehr“, so Haas. Mit diesem Schritt verbindet die ESA die Stärkung und Weiterentwicklung eines modernen christlichen Unternehmensleitbildes. So verpflichten sich Mitarbeitende bewusst, nach den christlichen Prinzipien der Stiftung zu arbeiten. „Wir stärken dadurch unsere Werte, denn der Leitgedanke christlicher Verantwortung spielt dadurch eine noch stärkere Rolle in unserem unternehmerischen Handeln, unabhängig von formaler“, unterstreicht Haas.
Unter der Überschrift „Die haben uns behandelt wie Gefangene“ fand 2017 die Hamburger Auftaktveranstaltung „Zur Anerkennung der Opfer von Gewalt und Unrecht in der Behindertenhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie“ in der Kulturküche auf dem Alsterdorfer Markt statt. Zahlreiche Menschen haben in den Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie in den 1950er bis 1970er Jahren Leid und Unrecht erlebt. Die neue Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ der Bundesregierung, der Kirchen und der Bundesländer hat das Ziel, dieses Unrecht öffentlich anzuerkennen, die Geschehnisse wissenschaftlich aufzuarbeiten und die Betroffenen finanziell zu unterstützten.
Die Bugenhagenschulen sind staatlich anerkannte, evangelische und inklusiv arbeitende Grund- und Stadtteilschulen im Ganztagsbetrieb mit gymnasialer Oberstufe. Sie gehören zum Bereich Bildung der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. Neben dem Standort in Alsterdorf gibt es jeweils eine Grundschule in Hamm, Ottensen und Groß-Flottbek. Im Stadtteil Blankenese befindet sich eine Grund- und Stadtteilschule. Selbstgesteuertes und vernetztes Lernen stehen in den Bugenhagenschulen im Mittelpunkt. Ausgehend von ihrem christlichen Menschenbild ist es ihnen wichtig, jedes Kind individuell zu fördern und als einzigartige Persönlichkeit anzunehmen. 2017 wurde ihr 150-jähriges Jubiläum mit einem Open-Air-Gottesdienst und bunten Darbietungen von Schüler*innen im großen Rahmen auf dem Alsterdorfer Markt gefeiert.
Das Stiftungsgelände mit dem Alsterdorfer Markt hat sich in den letzten Jahren im Rahmen der Geländeentwicklung mehr und mehr zu einem inklusiven Treffpunkt und Quartier entwickelt. Ob Open-Air-Kino, Konzerte oder Lesungen: Barrierefreiheit steht bei allen Veranstaltungen an erster Stelle. Das inklusive Restaurant Kesselhaus am Alsterdorfer Markt erhielt 2017 den ersten Inklusionspreis des Sozialverbandes Deutschland Landesverband Hamburg (SoVD) im Bereich Gaststätten. Sowohl der Service als auch die zwölf individuell ausgestalteten Arbeitsplätze für Menschen mit Handicap überzeugten die Jury. Zehn Menschen mit Behinderung arbeiten dem Restaurant zu. Zwei Werkstatt-Mitarbeiter mit Behinderung arbeiten im Service und in der Küche des Restaurants. Der Alsterdorfer Markt wurde 2017 von der Stadt Hamburg mit dem Inklusionspreis »Wegbereiter der Inklusion« ausgezeichnet. Der schon 2003 national wie international beachtetet Marktplatz gilt als ein Musterbeispiel eines lebendigen Quartierszentrums, welches auf dem Gelände einer ehemaligen geschlossenen Anstalt entstanden ist. Heute sorgen täglich ca. 5.000 Besucherinnen und Besucher für einen lebendigen Ort im Norden Hamburgs.
Die Pandemie war gesamtgesellschaftlich und natürlich auch für alle Bereiche und Gesellschaften der Evangelischen Stiftung Alsterdorf eine herausfordernde Zeit: Die Schulen gingen vom Präsenz- in den Distanz- und Wechselunterricht, in den Kitas wurde nur eine Notbetreuung aufrechterhalten. Alle Werkstätten, Treffpunkte und Tagesförderungen mussten vorübergehend schließen und die Hausgemeinschaften unterlagen strengen Kontaktregeln. Planungen und Maßnahmen mussten von einem Tag auf den anderen neu gedacht oder angepasst werden. Im Rückblick war es eine enorme Kraftanstrengung für alle Mitarbeiter*innen der ESA, die durch ihre Professionalität, mit täglich kreativen Lösungen für die bestmögliche Unterstützung der Klient*innen, Patient*innen und Schüler*innen sorgten.
Am Sengelmann Institut für Medizin und Inklusion (SIMI) wurde in Kooperation mit der Stadt Hamburgs einziges Impfzentrum für Menschen mit komplexen Behinderungen eingerichtet.
Gleichzeitig haben uns diese Veränderungen aber auch neue Wege eröffnet und Entwicklungen, gerade in der Digitalisierung, stark beschleunigt. Auch in Phasen des Lockdowns, trotz der zwischenzeitlichen Betretungsverbote in den Einrichtungen und Hausgemeinschaften: der so wichtige Kontakt zu Freunden und der Familie konnte über PC oder Tablet-Computer gehalten werden. Auch die Schulen bauten ihre digitalen Strukturen aus.
Das Jubiläumsjahr 2021 war geprägt von zahlreichen Veranstaltungen, Gottesdiensten und Berichten in den in- und externen Medien. Insbesondere wurde dabei die Bedeutung des Lebenswerks des Stiftungsgründers für die heutige Arbeit der Evangelischen Stiftung Alsterdorf herausgearbeitet.
Im Mai 2022 wurde der neu geschaffene Lern- und Gedenkort auf dem Gelände der Evangelischen Stiftung in Alsterdorf eröffnet.
Unmittelbar neben der Kirche St. Nicolaus erinnert er an die 630 Menschen mit Behinderung, die 1945 aus den damaligen Alsterdorfer Anstalten abtransportiert wurden. 513 Menschen wurden nachweislich von den Nationalsozialisten ermordet. Den Mittelpunkt des Lern- und Gedenkortes bildet das im Frühjahr 2021 aus dem Kirchenbau entfernte Altarbild von 1938. Seit Jahrzehnten war das Altarbild in Alsterdorf umstritten wegen seiner ausgrenzenden Botschaft gegenüber Menschen mit Behinderung. Das Bild wurde als Zumutung erlebt von den Menschen, die dort Gottesdienst feierten, und von den Verantwortlichen der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. Deshalb wurde nach Wegen gesucht, das Bild zu entfernen und gleichzeitig das Gedenken an die Opfer der Euthanasie wachzuhalten. Entstanden ist der Lern- und Gedenkort. Dieser neue Ort bietet Raum für Trauer, aber auch Informationen und für eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Thema.
Parallel zur Entstehung des Lern- und Gedenkortes wurde im Zuge der Herausnahme des Altarbildes die Stiftungskirche St.Nicolaus-Kirche grundlegend saniert. Wer die Kirche heute betritt, wird staunen: Nach der gut zweijährigen Sanierung öffnet sich ein lichtdurchfluteter Raum. Dort, wo früher das dunkle Altarbild die Kirche begrenzt hat, geht jetzt der Blick nach draußen.
Pastor
„Aufgeschlossen – von der Anstalt in die Welt“ lautet der Titel der Chronik von 1980-2019. Zeitzeug*innen kommen zu Wort und berichten von ihren Erfahrungen der bewegten Zeiten, als die Anstalt aufgelöst wurde, sich öffnete und bis heute konsequent den Weg der Inklusion geht. Hier geht es zu den Videos und Texten der Chronik-Alsterdorf.