„Menschen mit Behinderung gehören mitten in die Gesellschaft.“ Dieser Satz steht als Leitbild des Beratungszentrums (BZ) der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. 15 Expert*innen sind hier für Beratung, Diagnostik, Therapie und Fortbildung zuständig. „Menschen mit Behinderung gehören mitten in die Gesellschaft.“ Dieser Satz steht als Leitbild des Beratungszentrums (BZ) der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. 15 Expert*innen sind hier für Beratung, Diagnostik, Therapie und Fortbildung zuständig. Das BZ bringt ein einzigartiges Angebot an Dienstleistungen und Qualifizierungsmaßnahmen unter einem Dach zusammen. Von der interdisziplinären Zusammenarbeit profitieren alle Bereiche. Alle Mitarbeitenden eint das Ziel, die seelische Gesundheit von Menschen mit Beeinträchtigung und ihr Umfeld zu fördern.
Der studierte Psychologe Daniel Guckelsberger leitet seit Anfang 2025 das BZ und blickt auf eine 36-jährige berufliche Laufbahn in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf zurück. „Kolleg*innen verschiedener Disziplinen, Psycholog*innen, Pädagog*innen oder Sozialarbeiter*innen, spezialisiert auf Fachleistungen für Menschen mit Behinderung, mussten lernen, ihre Leistungen ‚verkaufbar‘ zu machen. Diese Herausforderung nahmen die Kolleg*innen unter der Leitung von Dr. Michael Wunder, dem ersten Leiter des Beratungszentrums nach Gründung im Jahre 1998, an.“ Heute umfasst das Beratungszentrum die Fachdienste Psychologie und Intensivpädagogik, das Studienzentrum der Hamburger Fernhochschule sowie das Projekt Schatzkiste.
Kooperation mit Spezialauftrag: die psychiatrisch-psychotherapeutische Ambulanz
In den Anfängen des Beratungszentrums entstand mit der psychiatrisch-psychotherapeutischen Ambulanz ein bis heute einzigartiges Kooperationsprojekt zwischen dem Beratungszentrum und dem Fachbereich Psychiatrie und Psychotherapie des Evangelischen Krankenhauses Alsterdorf (EKA). Neben der psychiatrischen und psychologischen Diagnostik finden erwachsene Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen hier Angebote zur Verhaltenstherapie sowie zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie.
Im Unterschied zu klassischen therapeutischen Angeboten kennen die Mitarbeiter*innen die Herausforderungen einer aufwendigeren und schwierigeren Diagnostik. „Viele Klient*innen benötigen einen längeren Zeitraum, um eine Antwort auf eine Frage zu finden, oder ihnen fällt es schwer, über eine bestimmte traumatisierende Situation zu sprechen. Hier arbeiten wir mit Rollenspielen oder bestimmten Techniken zur Entspannung und Regulation.“, sagt Jens Wittpennig, der zum fünfköpfigen Psycholog*innenteam gehört.
Zudem beziehen die Psycholog*innen der Spezialambulanz das soziale Umfeld ihrer Klient*innen – also Eltern, Geschwister, Partner*innen oder Mitbewohner*innen sowie gesetzliche Betreuer*innen – in die Therapie mit ein. „Das ist das Besondere in unserer Arbeit. Durch die Einbeziehung des Umfelds erreichen wir, dass Therapieinhalte, etwa besondere Übungen, dann in der Familie oder im Wohnumfeld weiter angeleitet und durchgeführt werden.“
Der Ursache auf den Grund gehen: Fachdienst Intensivpädagogik
Krisenintervention ist die Kernaufgabe des Teams der Intensivpädagogik im Beratungszentrum. Lindsay Bartelt ist seit gut einem Jahr bei der ESA. Sie kommt ursprünglich aus Berlin und hat dort bereits einige Jahre in der Intensivpädagogik gearbeitet: „Wir unterstützen Menschen mit verschiedenen Behinderungen, psychischen Auffälligkeiten oder aggressiven Verhaltensweisen und ihr Umfeld in akuten Krisensituationen. Oder wenn sich eine Verschlechterung der Befindlichkeiten und emotionalen Zustände abzeichnet.“
In der intensivpädagogischen Arbeit geht es darum, die Probleme, Bedürfnisse und Bewältigungsstrategien der Klient*innen zu erkennen und sie in herausfordernden Lebensphasen zu begleiten und zu beraten. Das Team um Leitung Carlos Escalera bietet neben der individuellen Entwicklungsbegleitung eine heilpädagogische Krisenintervention (HPK) als zeitlich begrenztes und gezieltes Angebot für Menschen in festgefahrenen Situationen an sowie eine Fachberatung in der Assistenzarbeit und spezielle Fortbildungen für Mitarbeitende im Sozial- und Gesundheitsbereich. „Hier profitieren wir sehr von der breit gefächerten Fachexpertise in unserem Team“, so Lindsay Bartelt. „Ob bei der Supervision, dem Umgang mit Traumata oder beim Thema Sexualität und Selbstbestimmung: Wir coachen Kolleg*innen aus der ESA, aber auch Mitarbeitende anderer Unternehmen. Auf Anfrage entwickeln wir auch individuelle Workshops, Seminare und bieten diese an Schulen, in Tagesbetreuung oder weiteren Einrichtungen an.“
Gerade in akuten Krisensituationen ist es von zentraler Bedeutung, schnell mit den Betroffenen in die Beratung einzusteigen. Dem stehen eine lange Warteliste und bürokratische Herausforderungen gegenüber. Auch die Einbeziehung des sozialen Umfelds in den Beratungsprozess fordert Zeit: „Die Einbindung von Familienangehörigen oder Assistent*innen ist immens wichtig, um einen nachhaltigen Weg aus der Krise zu finden. Das funktioniert nur, wenn alle an einem Strang ziehen“, so Guckelsberger. Ein Bildungsangebot, das ins Leben passt.
Das Studienzentrum der Hamburger Fern-Hochschule
Seit 2007 besteht mit dem Abschluss des Kooperationsvertrages zwischen dem Beratungszentrum der ESA und der Hamburger Fern-Hochschule (HFH) ein solches Angebot. „Damals startete das Studienzentrum mit 75 Studierenden in drei berufsbegleitenden Fernstudiengängen. Heute sind es rund 1.300 Studierende in jeweils fünf Bachelor- und Master-Studiengängen, die von 70 Lehrbeauftragten aus der Praxis unterrichtet werden“, sagt Jenny Drömer, Leiterin des Studienzentrums, stolz.
„Wir sind enorm gewachsen und längst ein über die Grenzen Hamburgs geschätzter Bildungspartner. Unsere Studierenden kommen aus ganz Norddeutschland und ich würde sagen, dass es mittlerweile kein Krankenhaus im Norden ohne eine Absolvent*in des Studienzentrums gibt.“ Das Studienangebot reicht von Berufspädagogik für Gesundheitsfachberufe über Pflegemanagement und Soziale Arbeit bis hin zur Wirtschaftspsychologie.
Um das Studienangebot möglichst passgenau auf die berufliche Belastung und die persönlichen Lebensumstände abzustimmen, ist das Lehrveranstaltungs- und Prüfungsangebot sehr flexibel und so von Studierenden individuell planbar. Alle Module können auch einzeln als zertifizierte Weiterqualifizierung belegt werden. Grundsätzlich werden die Inhalte anhand von Studienbriefen im Selbststudium und durch ergänzende Online-Lehrveranstaltungen und Lernvideos vermittelt. Alle Studierenden haben so die Gelegenheit, zeit- und ortsunabhängig zu lernen. Die Online- Lehrveranstaltungen sorgen dafür, dass sich die Studierenden kennenlernen und miteinander diskutieren können. Die Klausuren werden zentral entweder in Räumen der fachschule für soziale arbeit in Alsterdorf oder online über ein spezielles System geschrieben. Professor*innen und Lehrbeauftragte der Hamburger Fern-Hochschule nehmen Prüfungen und Examina ab.
Von Mensch zu Mensch: die Schatzkiste
„Es gibt bis heute noch unglaublich viele Mythen darüber, wie die Sexualität von Menschen mit Behinderung aussehen könnte. Dass sie ein Fetisch ist, triebhaft, infantil – oder dass Menschen mit Behinderung gar keine Sexualität haben“, sagt Kerstin Möckel-Schindler. „Wir bei der Schatzkiste sagen: Menschen mit Behinderung haben keine behinderte Sexualität. Die Sexualität von Menschen mit Behinderung ist so vielfältig und bunt wie die Sexualität von Menschen ohne Behinderung!“
Die Erzieherin arbeitet seit langen Jahren in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, zurzeit schwerpunktmäßig bei der alsterdorf assistenz ost in einer Tagesförderung. Vor knapp drei Jahren hat sie die Schatzkiste übernommen, die ebenfalls im Beratungszentrum angesiedelt ist. Die Schatzkiste ist die erste Partnerschaftsbörse für Menschen mit Behinderung in der Bundesrepublik Deutschland. Bis heute ist sie ein geschützter Ort für ihre Fragen, Unterstützung und zum Kennenlernen.
„In erster Linie geht es um die ganz individuellen Vorstellungen und Wünsche vom oder an den jeweiligen Traumpartner. Und darum, überhaupt einmal Gehör und Zeit für dieses Thema zu bekommen. Es gibt den Menschen mit Behinderungen das Gefühl von Selbstbestimmtheit und erfordert auch viel Mut“, sagt Kerstin Möckel-Schindler. „Wir reden über Partnerschaft, Freundschaft, Liebe und Sexualität. Das Thema Selbstbestimmtheit ist mir dabei ganz wichtig. Wenn es gewünscht ist, bauen wir das Gespräch zu einer sexualpädagogischen Beratung aus. Oftmals fehlt das Basiswissen, ist die eigene Sehnsucht oder Körperlichkeit nicht bewusst.“
Erst langsam greifen Beratungsstellen wie pro familia Angebote für Menschen mit Behinderung auf. Die Schatzkiste beackert mit ihrer Arbeit ein kaum bestelltes Feld der Sexualpädagogik. „Viele Menschen mit Behinderung werden mit dem Thema Sexualität alleingelassen, da dieses Thema immer noch tabuisiert wird und es eine allgemeine Verunsicherung bei Eltern, Angehörigen und Assistent*innen gibt.“
Im offenen Treff der Schatzkiste haben die Partnersuchenden dann die Gelegenheit, sich erstmals direkt zu begegnen. Kerstin Möckel-Schindler ist in der Nähe, um zu helfen, die erste Schüchternheit zu überwinden, ein Gespräch in Gang zu bringen und um etwaige Missverständnisse zu klären. Ob es am Ende beim netten Gespräch bleibt oder ob es ein zweites Treffen geben wird, entscheiden am Ende ganz allein die Gäste der Schatzkiste.
„In der Diversität des Beratungszentrums liegt– klug miteinander verknüpft – eine große Chance sachlicher Weiterentwicklung und kreativer Multiperspektivität auf dem Weg zu einer seelisch gesünderen Wirklichkeit für Menschen mit Beeinträchtigung und ihrem professionellen Umfeld.“, sagt Daniel Guckelsberger abschließend.
Text: Ingo Briechel
Dieser Artikel erschien ursprünglich im alsterdorf Magazin 01 2025.
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