Umbrüche, Aufarbeitung und Kontinuitäten

Die beiden Archivare gucken in die Kamera.

Vor fast 40 Jahren begann der Archivar, Historiker und Autor Dr. Harald Jenner mit dem Aufbau des Archivs der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. Im Januar ist er in den Ruhestand verabschiedet worden. Unser Redakteur Berndt Rytlewski traf ihn und seinen Nachfolger Dr. Ulrich Mechler zum Interview in den Archivräumen am Alsterdorfer Markt.

 

Herr Jenner, schön, Sie hier im Archiv zu sehen! Sie wurden ja neulich schon feierlich in den sogenannten Ruhestand verabschiedet. Wieso treffe ich Sie denn heute hier an Ihrem ehemaligen Arbeitsplatz?

Harald Jenner: Na ja, dass ich heute – und nicht nur heute – noch mal hier bin, hat seinen Grund: Ich freue mich sehr, dass ich in meinem Nachfolger Ulrich Mechler jemanden habe, mit dem ich auch nach meinem offiziellen Arbeitsende ganz wunderbar zusammenarbeiten kann. Und vor allem: dem auch allerlei zu übergeben ist! Das Archiv hat sich über 40 Jahre entwickelt – und kein Mensch kann das nach drei Wochen alles im Kopf haben und überschauen.

Sie sind tatsächlich knapp 40 Jahre hier im Archiv der Alsterdorfer Anstalten und späteren Evangelischen Stiftung Alsterdorf tätig gewesen?

Harald Jenner: Ja, es fing 1985, 1986 an, also 38, 39 Jahre ist es her. Im Vordergrund stand damals die Thematik, sich mit der Anstaltsgeschichte in der NS-Zeit zu beschäftigen. Dann ist in Gemeinschaftsarbeit mit Michael Wunder (ehemaliger Leiter des Beratungszentrums der ESA) und Ingrid Genkel (Theologin) das erste Buch „Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr: Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus“ entstanden. Damals stellte sich heraus: Es gab irgendwo noch Akten, die lagen in großen Stapeln herum, zum Beispiel vor dem Büro des damaligen Vorstands. Unsortiert und nicht bearbeitet. Uns ist das Grauen gekommen – und dann ist im Laufe der Jahre das Archiv entwickelt worden.

Das Sie dann aufgebaut haben.

Harald Jenner: Genau. Und es gab ja in Alsterdorf zum Glück in der Entwicklung von den Alsterdorfer Anstalten zur Evangelischen Stiftung Alsterdorf einen ganz markanten Umbruch, ohne den wir heute nicht an der Stelle wären, wo wir sind.

Inwieweit waren Sie an diesem Umbruch beteiligt?

Harald Jenner: Ich war da sozusagen nur der Chronist. Das fing ja schon in den 1970er-Jahren an. Da gab es Aktionen der Mitarbeiter, die im Kollegenkreis wegen der Missstände in Alsterdorf Aufmerksamkeit schufen und Veränderungen forderten. Und mitten in diese Phase hinein gehört eben auch die Bearbeitung der NS-Zeit. Die ist ein Teil dieses Umbruchs.

Es ist über 50 Jahre her, was in den 1970er-Jahren passierte. Und es gibt noch Zeitzeugen.

Harald Jenner: Natürlich. Aber als wir damals mit der Aufarbeitung begonnen haben, haben wir ebenso auch die Zeitzeugen, die die Dinge in den 20er- und 30er-Jahren erlebt hatten, gesucht und getroffen.

Und Ihr Schwerpunkt war auch gleich von Anfang an die Bearbeitung der NS-Zeit in den damaligen Alsterdorfer Anstalten…

Harald Jenner: Eigentlich sind es zwei verschiedene Bereiche: Der eine ist, das Archiv der gesamten Stiftung aufzubauen und dadurch auch die aktuellen Dinge zu archivieren. Und der andere Bereich ist die Auswertung der Bestände. Dazu gehört natürlich als Schwerpunkt die NS-Zeit. Die große Auswertung der NS-Zeit geschah selbstverständlich vor dem heutigen Stand des Archivs, aber es ist für die Neuauflage von „Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr“ alles neu ausgewertet und bearbeitet worden. Es wurden dann aber auch andere Projekte, die hier im Laufe der Jahre entstanden, im Wesentlichen durch die Materialien aus dem Archiv bestückt.

Sie haben ja nicht nur für das Alsterdorfer Archiv gearbeitet, sondern sind in der ganzen Bundesrepublik unterwegs gewesen beziehungsweise immer noch unterwegs…

Harald Jenner: Ja, zu meinem großen Bedauern änderte sich im Laufe der Zeit etwas. Es hat hier im Gegensatz zu anderen Einrichtungen nicht das große Interesse gegeben, aus diesem Archiv ein wirklich funktionierendes Dienstleistungszentrum zu machen, wie es zum Beispiel in Bethel der Fall war – dort mit mehreren vollbeschäftigten Archivaren.

Für Alsterdorf habe ich meine Arbeit entweder in Form einer kleinen Anstellung oder auf Werkvertragsebene gemacht. Und da war klar, dass ich so etwas eben auch für andere Archive tun würde. So habe ich das für ungefähr 20 Einrichtungen im In- und Ausland gemacht.

Ihr größter Wunsch für den Ruhestand war vermutlich, dass mit Ihrem Fortgang der Schlüssel der Archivtür nicht umgedreht wird?

Harald Jenner: Klar – und so ist es ja auch nicht! Dass ich heute noch hier bin, ist eine Ausnahme. Die Arbeit wird mein Nachfolger jetzt allein machen und machen können. Mit Dr. Ulrich Mechler ist es sogar gelungen, das Archiv aufzuwerten, weil er eine feste, immerhin feste halbe Stelle hat. Darüber kann die Evangelische Stiftung Alsterdorf froh sein.

Herr Mechler, wie sind Sie zur Evangelischen Stiftung Alsterdorf gekommen?

Ulrich Mechler: Ich war und bin am Universitätsklinikum Eppendorf wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin. Vorher war ich etliche Jahre an der Medizinhistorischen Sammlung in Kiel beschäftigt. Vor einigen Monaten hat Michael Wunder meinen Chef gefragt, ob er jemanden kenne, der ab Januar 2024 Harald Jenners Nachfolge antreten könne. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich eine Ausbildung für Bibliotheks- und Archivwissenschaft gemacht und daher hat sich das eigentlich gut gefügt. Auch inhaltlich, denn ich habe sehr viel zur Anstalts- und Psychiatriegeschichte in Hamburg gearbeitet. Insofern bietet das jetzt thematisch einen sehr guten Anschluss. Schon in Eppendorf gab es aktenmäßig viele Bezüge nach Alsterdorf.

Sie sind ja in das Archiv eingestiegen, das Harald Jenners Spuren trägt. Glauben Sie, dass Sie damit gut arbeiten und Ihren eigenen Stil einbringen können?

Ulrich Mechler: Ich habe am Anfang schon einen sehr großen Respekt davor gehabt. Das Archiv ist ziemlich umfangreich und es steckt über Jahrzehnte angesammeltes Detailwissen darin. Aber es ist auch gut erschlossen. Ein gut aufgearbeitetes Archiv, an das ich anschließen kann. Doch ich bin auch froh, dass Harald noch greifbar ist und ich ihn auch sehr niederschwellig anrufen und Fragen stellen kann, weil einfach diese sehr komplexe Anstalts- und Stiftungsgeschichte dahintersteckt, die er seit fast 40 Jahren bis ins Detail kennt.

Harald Jenner: Ach, Uli, du weißt: 40 Jahre fangen mit einer Woche an!

Ulrich Mechler: 40 Jahre werde ich aber nicht mehr schaffen…

Herr Mechler, glauben Sie, dass in dem Akten- und Bücherbestand noch Geschichten schlummern, die man zutage fördern könnte? Ähnlich wie damals bei der Euthanasie- und NS-Geschichtsaufarbeitung?

Ulrich Mechler: Es gibt auf jeden Fall Themen, die sich zum Beispiel erst in den letzten Jahren und Jahrzehnten ergeben haben. Natürlich nicht so eine Riesenbaustelle wie Euthanasie oder NS-Zeit, aber zum Beispiel nur mal ein Thema von vielen, das in den letzten Jahren in der Medizingeschichte aufgekommen ist: Pflegegeschichte. Fragen wie: Wer sind eigentlich die Leute, die die Masse der Arbeit allein vom quantitativen Umfang her gemacht haben? Dafür hat man sich in der klassischen Medizingeschichte eigentlich nie interessiert. Und da sehe ich hier im Alsterdorfer Archiv: Wir haben 18.000 Mitarbeiterakten, die in den Schränken auf Papier lagern; es gibt also auf jeden Fall noch interessante Themen. Und mittlerweile ist es ja auch so, dass sehr viele Schriftstücke digital verfasst werden.

Wie gehen Sie damit um?

Ulrich Mechler: Es ist gerade eine große Umbruchphase im ganzen Archivwesen. Grundsätzlich gibt es den Bedarf, auch digitale Schriftstücke zu archivieren, so wie man das früher mit Papier gemacht hat. Da müssen einfach neue Wege gefunden wer- den, wie mit diesem Archivgut umzugehen ist, und es wird für mich sicher eine große Herausforderung werden, diesen Medien-Shift im Archiv zu bewältigen. Aber es ist eine gute Herausforderung, der ich mich gern stelle!

Ich wünsche Ihnen beiden viel Glück. Dem einen im Ruhestand und bei der weiteren Arbeit, dem anderen bei dem Berg Arbeit, die sowohl auf Papier als auch digital vor ihm liegt…

 

Interview: Berndt Rytlewski
Der Artikel erschien ursprünglich im alsterdorf Magazin 02 2024.

Schlagworte:

  1. Gedenken
  2. Stiftung

Veröffentlichungsdatum:

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