- 1850 - 1899

Gründerjahre
Anfänge
Über das Leben von Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung in früheren Jahrhunderten wissen wir wenig. Dokumentiert sind Verfolgungen, Isolation und Tötungen. Im 17. und 18. Jahrhundert kommt mit ersten klinischen Berichten der Gedanke auf, die Entwicklungsmöglichkeiten jener Menschen seien zu beeinflussen. Aber erst im 19. Jahrhundert wächst das Verantwortungsbewusstsein für diese Personenkreise. Überall in Europa versuchen in jener Zeit engagierte Christen – Theologen, Pädagogen, Mediziner – deren Lebenssituation zu verändern. Fast alle großen diakonischen Einrichtungen der Behindertenhilfe, die es heute in der Bundesrepublik gibt, sind in den Jahren seit 1848 entstanden.
Verantwortung für den Nächsten
Die Anfänge der Evangelischen Stiftung Alsterdorf gehen zurück auf das Jahr 1850. Am 16. April gründet der junge Pastor Heinrich Matthias Sengelmann in seinem Pfarrhof der kleinen Elbgemeinde Moorfleet eine „Christliche Arbeitsschule". Er nimmt sozial benachteiligte Kinder auf, unterrichtet sie in Kulturtechniken und vermittelt ihnen Kenntnisse und Fertigkeiten in Handwerk und Landwirtschaft. Als er 1853 Pastor an der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis wird, wandelt er seine Arbeitsschule in das „St. Nikolai-Stift" um. 1860 kauft Sengelmann den Alten Brauhof in Alsterdorf und verlegt das Stift dorthin. Nach Aufbau einer Gartenbauschule gründet er die Alsterdorfer Anstalten.
Erlebnisse im Gängeviertel
Als Seelsorger an der St. Michaelis-Kirche besucht Sengelmann häufig das Hamburger Gängeviertel. In den ärmlichen Wohnquartieren aus dem 17. Jahrhundert trifft er auf den geistig behinderten Carl Koops. Sengelmann erkennt die fehlenden Entwicklungschancen des Jungen. Nach vergeblichen Versuchen, für ihn eine Pflegefamilie zu finden, startet der Theologe einen Spendenaufruf zur Gründung eines Asyls. Mit dem Geld kauft er weiteres Gelände in Alsterdorf und baut ein kleines Fachwerkhaus, in das am 19. Oktober 1863 vier geistig behinderte Jungen und ein Hausvater einziehen. Die Behindertenbetreuung wird bald Schwerpunkt der Alsterdorfer Arbeit. 1867 gibt Sengelmann sein Predigeramt am Michel auf, um als unbesoldeter Direktor den Ausbau der Anstalten zu gestalten. Durch Erbschaften ein vermögender Mann geworden, bringt er sein gesamtes Privatvermögen als Darlehen, später als Erbe in die Stiftung ein.
Ausbau der Anstalten
Der Ausbau der Alsterdorfer Anstalten beginnt. Gleichzeitig wird die Ausbildung der Mitarbeitenden stetig verbessert. Auf der Grundlage des damaligen Wissensstandes werden erste pädagogische Programme entwickelt. Sengelmanns Auffassung von Bildungsfähigkeit ist weit gefasst: Er beschult geistig behinderte Menschen und beschäftigt sie in Werkstätten, Gärtnerei und Landwirtschaft. 1895 holt er einen der führenden Heilpädagogen seiner Zeit, den Lehrer Johannes Paul Gerhard, nach Alsterdorf. Dieser baut die Schule – Vorläufer der heutigen Bugenhagen-Schulen – innerhalb weniger Jahre zu einer heilpädagogischen Musterschule aus, die weit über Hamburgs Grenzen hinaus bekannt wird. Als Sengelmann 1899 stirbt, leben mehr als 600 geistig, körperlich und seelisch behinderte Menschen sowie 140 Mitarbeiter und ihre Familien in den Alsterdorfer Anstalten.