Archivar und Aktivist

Der Archivar des Unternehmens wird verabschiedet. Nun, so könnte man denken, kommen ein paar Menschen ins Archiv, Blumenstrauß wird übergeben, Danke und noch einen Kaffee.

Jedoch haben wir mit dem Archivar, Theologen und Kirchenhistoriker Dr. Harald Jenner zu tun, und da mussten zur Zusammenkunft nicht im Archiv, sondern in der St. Nicolaus-Kirche mal eben alle Stühle aufgestellt werden. Denn sie kamen von überall her, die Weggefährt*innen, Berufskolleg*innen, Familie, Freundinnen und Freunde, Stiftungsvorstand und zahlreiche Alsterdorfer Mitarbeitende. Begleitet von zauberhafter Musik von Günter Kochan am Flügel hieß es nun: Abschied in den Ruhestand für Dr. Harald Jenner. Und zum Glück auch: Ein herzliches Willkommen dem Nachfolger, Dr. Ulrich Mechler!

Der Moderator des Nachmittags, Dr. Stefan Atze (Stabsstelle für diakonische Unternehmenskultur) beleuchtete in seiner Begrüßung die besondere Wirkkraft Harald Jenners in den vergangenen Jahrzehnten, indem er aus der Bibel, Prediger 10, Vers 8 zitierte: „(…) und wer den Zaun zerreißt, den wird die Schlange stechen.“ Bezogen auf unseren bisherigen Archivar ist dieses Zitat wahrlich sinnbildlich, denn Harald Jenners besondere Bedeutung für die Stiftung bestand nicht nur in dem verlässlichen Archivieren der ihm zugespülten Papiere der täglichen Unternehmensarbeit, sondern insbesondere auch in der zielgerichteten Auswertung des Archivmaterials.

Wer den Zaun zerreißt: Harald Jenner gehört zu den Aktivist*innen, die mit ihrem Wirken maßgeblich daran beteiligt waren, dass der Zaun für alle Zeit verschwand, der die Stiftung, bzw. damalige Anstalt, zum abgeschirmten Sondergelände gemacht hatte. Gegen so manchen Widerstand der „stechenden Schlange“, den damaligen Vorständen.

„Herr Dr. Jenner, Sie sind für uns ein Archivar mit Diakonieherz. Wir alle sind sehr dankbar dafür, dass Sie unser Archiv in einen guten Zustand gebracht haben. Nicht zuletzt sprechen dafür auch die zahlreichen Anfragen nach Material für wissenschaftliche Arbeiten oder von Privatpersonen. Danke für die über vierzig Jahre!“, sagte Pastor Uwe Mletzko, Vorstandsvorsitzender der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, in seinen Dankesworten an den Archivar. Und er zeigte auf, dass Harald Jenner neben seiner Archivarstelle in Alsterdorf auch auf vielen anderen nationalen und internationalen Feldern sein umfangreiches Wissen eingebracht hat: „Sie, sind in einer Vielzahl von diakonischen Einrichtungen mit der Aufarbeitung von Geschichte und insbesondere der Euthanasieverbrechen beschäftigt und betreuen deren Archive, leisten bundesweit Gedenkstättenarbeit. Neben dem Bundesverdienstkreuz, verliehen für die Erforschung des Schicksals norwegischer Gefangener in Schleswig-Holstein, tragen Sie auch die St. Olav-Medaille zum Zeichen der Anerkennung von norwegischer Seite“, so Pastor Mletzko.

Unter den vielen wichtigen Publikationen Harald Jenners hob Uwe Mletzko eine heraus, die unmittelbaren Bezug zur Geschichte der ehemaligen Alsterdorfer Anstalten hat und ein maßgebliches Mosaik für die erfolgreiche Öffnung des Geländes und die Entwicklung zu einem inklusiven, modernen diakonischen Unternehmens ist: das Buch „Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten.“

Dr. Michael Wunder, ehemaliger Leiter des Beratungszentrums der ESA und mit Harald Jenner und vielen anderen einer der wichtigsten „Zauneinreißer“ Alsterdorfs, Kollege und Weggefährte Harald Jenners, ergriff so auch das Wort zur Rückschau auf die gemeinsame Zeit und sagte unter anderem: „Harald, du warst immer mein „Aufpasser“ in Sachen Präzision bei der Datenaufbereitung. Du hast eine radikale Faktensammlung zustande gebracht! Ich danke dir für fast vierzig Jahre fruchtbare Zusammenarbeit – und Freundschaft.“

Da Harald Jenner nicht zu den Menschen gehört, die die Organisation seiner Verabschiedung ausschließlich anderen überlassen, wurde ihm ein Wunsch erfüllt: ein Fachvortrag mit dem Thema: „Das Archiv – Grundlage einer informierten Erinnerungskultur.“

So gab sein langjähriger Kollege Dr. Michael Häusler, Archiv- und Bibliotheksleiter beim Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung, Berlin, umfangreiche Einblicke in die vielfältigen Aufgaben und Möglichkeiten von Archivarbeit. In Bezug auf Alsterdorf wies er insbesondere auf drei Beispiele geglückter – und vor allem auch sichtbarer – Erinnerungsarbeit hin, an der Harald Jenner und Michael Wunder besonderen Anteil haben: den Alsterdorfer Gedenkstein, die „Stolperschwelle“ am Ort der ehemaligen Pforte und den Lern- und Gedenkort vor der St. Nicolaus-Kirche, der die Namen der Opfer nennt und deren Fotos zeigt. Eben Erinnerungsarbeit für die Gegenwart und die Zukunft, die ohne ein gut geführtes Archiv nicht hätte geleistet werden können.

Ja, und was gibt man dem aus dem Unternehmen scheidenden Archivar mit auf den Weg? Vorstandsvorsitzender Pastor Uwe Mletzko überreichte etwas, das sich gut neben Harald Jenners Bundesverdienstkreuz und der St. Olav-Medaille am Revers des Jacketts hervorragend macht: Das „Kronenkreuz der Diakonie in Gold“, die Auszeichnung des Diakonischen Werkes für langjährige Dienste in Kirche und Diakonie. Und damit der „Zauneinreißer“ zukünftig einen handfesten Beweis dessen hat, was er damals mit eingerissen hat, ist er nun in Besitz einer der letzten verbliebenen eisernen Zaunsprossen aus Anstaltszeiten.

Danke, Dr. Harald Jenner!

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