Hier zählt Ausdruck, nicht Akribie!

Die Tagesförderung Haus am See im ruhigen Stadtteil Rahlstedt hat nicht nur eine besondere Lage, sondern auch ein besonderes Konzept. Elf Klientinnen kommen hier von montags bis freitags zusammen, um gemeinsam zu lernen, sich zu bewegen, aber vor allem: um kreative Projekte umzusetzen.

Das Haus am See ist ein Mehrgenerationenprojekt, in dem verschiedene Beratungs- und Bildungsinitiativen sowie ein Café unter einem Dach versammelt sind. Die Tagesförderung hat ihre Räumlichkeiten im oberen Stockwerk und damit einen herrlichen Blick auf den See. Die Räume sind hell und einladend, überall an den Wänden und Decken hängen selbst gebastelte Bilder, Mobiles und Makramees.

Den großen Gemeinschaftsraum ziert ein breites Regal voller Mal- und Bastelutensilien. In der Mitte steht ein langer Tisch, auf dem verschiedene halbfertige Projekte ausgebreitet liegen: Bügelperlen, Armbänder, Aquarellbilder und Stoffelefanten. Jede der Klientinnen arbeitet an ihrem eigenen Projekt.

In die Tagesförderung kommen über- wiegend Frauen, die im nahe gelegenen Wohn- und Assistenzangebot im Wilhelm-Jensen-Stieg leben. Sowohl das Wohnhaus als auch die Tagesförderung bieten ihnen einen Schutzraum, in dem nur Frauen begleitet werden, die eine psychische Erkrankung haben. Vor rund zehn Jahren zog die Tagesförderung in das Haus am See. Die damalige Leitung Regina Fröhlich kämpfte lange um den begehrten Platz.

Künstlerische Lieblingsprojekte

Im Gemeinschaftsraum herrscht munteres Geplapper. Es ist Mittwoch, in der Regel steht heute Weiterbildung auf dem Programm. Die Tagesförderung hat einen klaren Wochenplan: montags Nähen, dienstags freies kreatives Arbeiten, mittwochs Bildung, donnerstags Sport und freitags Karten bemalen.

Heute jedoch stelle jede Klientin ihr Lieblingsprojekt vor. Andrea W. arbeitet konzentriert mit der Nadel an ihrem blauen Plüschelefanten, während Kerstin in motorischer Feinarbeit Bügelperlen auf ein Steckbrett reiht. Besonders leidenschaftlich ist Elke K. bei der Sache. Sie malt Tulpen auf eine Grußkarte. Die Farbe vermalt sie im Anschluss vorsichtig mit Wasser.

Der kreative Schwerpunkt der Tagesförderung entwickelte sich erst im Laufe der Jahre durch den Einfluss der Mitarbeiter*innen. Die aktuelle Leitung, Katharina van Leeuwen, ist gelernte Atelier- und Werkstattpädagogin. Sie findet, Kunst ist für jeden da. Sich kreativ auszudrücken habe gerade für Menschen mit traumatischen Erfahrungen eine therapeutische Wirkung, weil man auf diesem Wege vieles verarbeiten könne. Das sei ein Grund, warum kreatives Arbeiten in jeder Tagesklinik angeboten würde. Auch ihre Kolleginnen haben viel Spaß an der kreativen Arbeit, auch wenn sie keine spezifische Ausbildung in dem Bereich haben. Jede bringt ihre eigenen Ideen mit ein.

Soziales Miteinander

Die kognitiven und motorischen Fähigkeiten der Klientinnen sind sehr verschieden. Dementsprechend hat jede ihre Lieblingsaufgabe. Insgesamt seien sie eher selten intrinsisch motiviert, ließen sich aber immer wieder auf neue Projekte ein und seien dann auch konzentriert bei der Sache, so Katharina van Leeuwen.

Der Wochenplan ist ein Angebot der Tagesförderung, letztlich kann jedoch jede Klientin selbst entscheiden, ob sie an dem Tag lieber etwas anderes machen möchte. Eine von ihnen ist am liebsten Zuschauerin – sie zieht vor allem etwas aus dem sozialen Miteinander.

Gebastelt wird nicht nur zum Spaß. Viele der Bilder werden in den Fluren im Haus am See ausgestellt und dort von allen Besucher*innen bewundert. Zudem verkauft die Tagesförderung ihre Produkte auf verschiedenen Märkten, Stadtteil- und Gemeindefesten. Bereits Wochen vorher herrscht dann reges Schaffen im Haus am See. Für die Saisonarbeit wird sogar der Wochenplan aufgelöst. Obwohl es hier mehr als sonst für die Klientinnen zu tun gibt, merkt man ihnen an, wie stolz sie sind, etwas zu erschaffen, das tatsächlich verkauft wird. Einige von ihnen trauen sich sogar in die Bude auf den Weihnachts- markt, um live beim Verkauf dabei zu sein.

Die Tagesförderung ist ein Angebot im Rahmen der Eingliederungshilfe. Die Idee ist, dass Menschen mit Behinderung Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und somit auch an der Arbeitswelt teilhaben sollen. Kommt der sogenannte erste Arbeitsmarkt hierfür nicht infrage, gibt es die Möglichkeit einer Werkstatttätigkeit oder einer Tagesförderung.

Die Tagesförderung hat das Ziel, einen strukturierten Alltag mit erfüllender, sinnstiftender Tätigkeit zu bieten, bei der sich jede*r mit ihren*seinen Talenten einbringen und die Fähigkeiten ausbauen kann. Je nach individueller Belastbarkeit können unterschiedlich viele Tage in der Tagesförderung beantragt werden, in der Regel findet jedoch eine Beschäftigung von Montag bis Freitag statt. Viele der Klientinnen im Haus am See kommen schon seit vielen Jahren hierher.

Elke K. hat mittlerweile ein Alter erreicht, in dem sie normalerweise in den Ruhestand gehen würde. Doch sie liebt das Malen und kann sich nicht vorstellen, den ganzen Tag zu Hause zu sitzen. Ihren Stil erkennt man zwischen den anderen Werken sofort.

Elke K. malt Monster, Tiere und Häuser – erkennbar sind ihre Bilder durch die sich wiederholenden geometrischen Formen, durch die alles ein bisschen roboterartig aussieht. Außerdem liebt sie bunte Farben. Auf Nachfrage erzählt sie begeistert von ihren letzten Bildern und holt noch eine weitere Kiste aus dem Regal. Über das Malen und Erörtern ihrer Kunst stellt Elke K. besonders schnell Kontakt zu anderen Menschen her. Dieser Austausch hat ihr während Corona sehr gefehlt.

Gemeinsam Ziele erreichen

Wenn einmal nicht gemalt oder gebastelt wird, bekommen die Klientinnen verschiedene Lernaufgaben. Je nach individuellem Stand können dies Lernhefte aus der Vor- schule bis zur fünften Klasse sein. Darin sind einfache Rechen- und Schreibaufgaben, die die Klientinnen mit Unterstützung der Mitarbeiter*innen lösen. Solche Konzentrationsaufgaben bilden einen Ausgleich zum freien kreativen Arbeiten. Bei beidem sei es wichtig, viel Geduld mit den Klientinnen zu haben und ihnen immer wieder Mut zu- zusprechen. Beim kreativen Arbeiten sei es außerdem wichtig, nichts zu bewerten, sagt Katharina van Leeuwen. „Es geht nicht um Akribie, sondern vor allem um Ausdruck.“

Einmal im Jahr wird für jede der Klientinnen eine Beschäftigungsplanung erstellt, in der festgehalten wird, welche Ziele sie im kommenden Jahr erreichen wollen. Darunter fallen zum Beispiel Themen wie Kommunikationsfähigkeit, Teilnahme an Gruppenaktivitäten, Kreativität und Beweglichkeit. Diese Beschäftigungsplanung fließt mit in den sogenannten Sozialbericht ein, der bei der Behörde eingereicht wird, um den Wohn- und Beschäftigungsplatz einer Klientin für ein weiteres Jahr zu bewilligen.

Unter den Mitarbeiter*innen in den Tagesförderungen finden sich sowohl Sozialpädagog*innen als auch Heilerziehungspfleger*innen und Erzieherinnen. Nicht jede*r hat etwas mit Kunst am Hut – im Haus am See ist die Leidenschaft jedoch von Vorteil. Die meisten Inspirationen holen sich die Mitarbeiterinnen auf Pinterest und Instagram. Natürlich bringen auch die Klientinnen ihre Ideen ein. So wurde neulich beispielsweise darüber abgestimmt, dass ab sofort Perlenarmbänder Teil des Portfolios werden sollen.

Zudem orientiert man sich gerne an den Jahreszeiten. Im Frühjahr werden Blumen- kränze gebastelt, im Herbst Kürbisse ausgehöhlt, im Winter Weihnachtskugeln bemalt. Entscheidend ist, sich an Neues heranzuwagen und nicht pauschal zu behaupten, dass man dies oder jenes nicht kann. Jede kann etwas beisteuern.

„Oft hilft es den Klientinnen, wenn wir ihnen eine Vorlage geben. Komplett freies Arbeiten kann für manche überfordernd sein“, erklärt Katharina van Leeuwen. „Ich stelle aber fest, dass die Klientinnen uns Mitarbeiterinnen mehr und mehr vertrauen und sich folglich auch selbst immer mehr zutrauen. Außerdem geben ihnen die positiven Rückmeldungen aus dem Haus ein gutes Selbstwertgefühl.“

Das Haus am See nimmt Auftragsarbeiten für verschiedene Anlässe entgegen. Wer sich einen persönlichen Eindruck von den Produkten verschaffen möchte, dem empfehlen wir einen Besuch im Kreativshop „’s Fachl“ in Altona!

Viele der Klientinnen im „Haus am See“ kommen schon seit vielen Jahren hierher (v. l. n. r.) Katharina G., Elke K., Andrea W., Justyna A., Kerstin B.

 

Text: Susanne Brand
Der Artikel erschien ursprünglich im alsterdorf Magazin 01 2024.

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