Inklusion als Generationenaufgabe

Wechsel im Vorstand: Nach fast 25 Jahren in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf geht Vorständin Hanne Stiefvater in Rente. Ihre Nachfolgerin ist Stefani Burmeister. Bilanz und Ausblick in bewegten Zeiten.

 

Hanne Stiefvater, vor knapp 25 Jahren haben Sie in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf (ESA) angefangen, als Teil­bereichsleitung in Altona. Damals war die ESA mitten im Umbruch – die An­staltsstrukturen wurden aufgelöst, neue Wohnformen im Quartier entwickelt. Was war das für eine Stimmung unter den Kolleg*innen und Klient*innen?

Hanne Stiefvater: Das war eine Aufbruch- und Umbruchstimmung. Das kennt sicher jeder: Wenn man etwas Großes vorhat, dann geht es oft einher mit Befürchtungen und Widerständen, eben nicht nur Begeisterung von allen Seiten, von Mitarbeitenden, aber auch von den Menschen selber und ihren Angehörigen.

Die Vorstellung, dass das Anstaltsgelände aufgelöst wird, warf viele Fragen bei den ehemaligen Anstaltsbewohner*innen auf: Wo werde ich wohnen, wie werde ich leben, wie wird die medizinische Versorgung im Stadtteil sein oder werde ich dort an den Rand gedrängt? Und wir haben ja auch solche Dinge erlebt.

Es gab zum Beispiel Proteste und eine Unterschriftensammlung gegen ein neues Wohnhaus im Stadtteil. Und diese Entwicklung zu gestalten, dranzubleiben an einer Vision und hartnäckig und konsequent im Team daran zu arbeiten, das war ein großes Glück und auch eine große Lernerfahrung für mich.

 

Eine Ihrer ersten Aufgaben war es, eine geschlossene Wohngruppe für 19 Männer aus dem Karl­Witte­Haus (KWH) beim Auszug zu begleiten – Männer, die rund 30 Jahre geschlossen gelebt hatten.

Hanne Stiefvater: Da war ich ein bisschen schockiert. Ich kannte die ESA-Welt zu- nächst ja nur aus Altona. Aber auch da sind wir mit großem Elan rangegangen.

Als Erstes hatten die Kolleg*innen im KWH eine Tagesförderstätte aufgebaut. Über Arbeit und Beschäftigung ist viel in Bewegung gekommen bei den einzelnen Männern. Die Wohnungssuche war dann ganz schön herausfordernd und wir brauchten kreative Lösungen und Partner*innen in der Wohnungswirtschaft. Zum Beispiel neun der Männer, die ausgezogen sind, sind in den Ratsmühlendamm gezogen. Das war wohl ein ehemaliges Bordell.

Das hat sich aber sehr geeignet, denn alle Einzelzimmer hatten ein Bad und einen schönen Gemeinschaftsraum. Wir haben schon verrückte Sachen gemacht und unkonventionelle Lösungen gefunden, damit es gelingt. Ohne den Zusammenhalt von Führungskräften und Mitarbeiter*innen hätte es auch nicht geklappt.

 

Stefani Burmeister, Sie sind ungefähr zur gleichen Zeit in die Evangelische Stiftung Alsterdorf gekommen und haben in Bergedorf angefangen. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Stefani Burmeister: Es hat mich damals richtig beeindruckt, wie sich die Stiftung auf den Weg gemacht hat, die Institution aufzulösen, sich verschrieben hat, zu sagen: Wir wollen, dass Menschen teilhaben können, im ganz normalen Leben, dass sie ihren eigenen Wohnraum, ihren eigenen Kühlschrank, ein eigenes Konto haben.

Dass sie selber entscheiden können: Wo will ich arbeiten, wie will ich meine Freizeit verbringen. Ich habe damals auf dem Stiftungsgelände im Karl-Witte-Haus gesehen, wie die Menschen dort gelebt haben, im 6. Stock, dort lebten nur Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf. Es standen zehn Menschen im Rollstuhl, die alle nicht sprechen konnten, irgendwie zusammengeschoben in einem Aufenthaltsraum. Und da habe ich gedacht: Das kann nicht sein, wir müssen das verändern. Und damit hat mich die Stiftung gepackt.

 

Neue Formen der Eingliederungshilfe brauchten auch andere Formen der Finanzierung. Sie haben maßgeblich das sogenannte Trägerbudget mit entwickelt. Was bedeutet das für die konkrete Arbeit?

Hanne Stiefvater: Die Hauptarbeit, die wir leisten, ist die persönliche Assistenz im Alltag – bei vielen rund um die Uhr. Dafür gibt es einen sozialrechtlichen und damit finanziellen Rechtsanspruch für den Einzelnen. Zudem haben wir in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung den Auftrag, Inklusions- und Teilhabeprozesse zu fördern, damit alle Menschen gleichberechtigt in dieser Gesellschaft leben können.

Dies zu organisieren, dass der Einzelne auch wirklich in der Gesellschaft, zum Beispiel bei Freizeitaktivitäten im Stadtteil, teilnehmen kann – das geschieht nicht von allein. Wir finden immer wieder Strukturhemmnisse, die es den Menschen nicht ermöglichen, teilhaben zu können.

Und jetzt ist die Frage: Wer arbeitet eigentlich an inklusiven Strukturen? Dafür braucht es natürlich auch Ressourcen, das muss jemand machen. Und die Mitarbeiter*innen, die an der Seite des Menschen mit Behinderung sind, die haben nicht noch Kapazitäten, dafür zu sorgen, dass im Stadtteil die Strukturen inklusiv sind. Das heißt, wir brauchen dafür Möglichkeiten und Ressourcen, neue, kreative Finanzierungsmodelle – und das ermöglicht unter anderem das Trägerbudget.

 

Begleitend haben Sie in der ESA das Prinzip der Sozialraumorientierung in der Eingliederungshilfe mit eingeführt und weiterentwickelt. Wie hat das die Arbeit mit Menschen mit Behinderung verändert?

Hanne Stiefvater: Es passt sehr gut zum Wertekanon in der ESA, weil es sehr vom einzelnen Menschen ausgeht und was er will und nicht davon, was andere denken, was er wollen/denken/brauchen würde. Wichtig ist, was der Einzelne will. Und an dieser Energie kann man unheimlich gut andocken. Und dann fragt man als Nächstes: Was kann er selber tun, was kann sein Umfeld tun? Und das alles abzuklopfen und erst am Ende zu fragen: Wenn das alles ausgeschöpft ist, dann braucht es auch professionelle Hilfe; das kommt unserer Haltung entgegen, an passgenauen, individuellen Unterstützungssettings zu arbeiten.

Da haben wir in den vergangenen 15 Jahren viel gelernt und es ist ja auch noch nicht zu Ende. Wir bringen nun die Akademie für Sozialraumorientierung und Inklusion auf den Weg, um diesen Ansatz Führungskräften und Mitarbeitenden nahezubringen und sie zu begleiten. Im Grunde entsteht auch ein neues Berufsbild.

 

Im Jahr 2023 wurde vom Vorstand und den Führungskräften die Strategie für 2024–2028 entwickelt. Was sind die Schwerpunkte?

Stefani Burmeister: Wir sind mitten in einem Transformationsprozess. Viele
Schlüsselpersonen, die über lange Jahre im Unternehmen waren, gehen jetzt in den Ruhestand. Und es kommen junge Leute nach, die haben andere Schwerpunkte, andere Kompetenzen, sie arbeiten anders zusammen und haben ganz andere Anforderungen an die Arbeit, an das Miteinander. Das berücksichtigen wir in unseren strategischen Überlegungen.

Darüber hinaus haben wir acht Handlungsfelder benannt, die wir konkret gestalten wollen, unter anderem das Thema Nachhaltigkeit oder die Unterstützte Kommunikation in allen Arbeitsbereichen.

 

Die Strategie wurde in einer Zeit entwickelt, die von vielen Veränderungen und Unsicherheiten geprägt ist: Die Folgen der Coronapandemie, eine alternde Gesellschaft und der Fachkräftemangel, der Klimawandel und antidemokratische Bewegungen sind nur einige davon.

Stefani Burmeister: Es ist wichtig, dass wir hingucken müssen, wie sich die Gesellschaft verändert. Und wir müssen ganz klar Position beziehen, dass wir niemanden ausgrenzen, dass wir für Diversität stehen, dass wir nicht schwarz-weiß denken. Zum Beispiel ist es wichtig, dass wir Menschen in ihrem Willen unterstützen, wie sie leben und arbeiten wollen. Das bedeutet, dass auch wir uns als Institution verändern müssen.

 

Wie können wir unsere eigenen Organisationsstrukturen in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf inklusiv weiterentwickeln?

Stefani Burmeister: Ich habe als Geschäftsführerin der alsterarbeit gerade mit den Frauenbeauftragten und den Werkstatträten sehr auf Augenhöhe zusammengearbeitet. Es ist sehr wichtig, dass wir die Interessenvertretungen stärken. Dass wir die Werkstatträte, die Frauenbeauftragten, die Wohnbeiräte stärken. Dass wir Menschen immer auch Raum geben, mit zu entscheiden und ihre Ideen einzubringen. Das ist etwas, wofür ich mich starkmachen möchte in den nächsten Jahren, dass wir die Menschen einbeziehen, die es tatsächlich betrifft. Das bedeutet, auch über unseren rechtlichen Auftrag hinaus.

 

Frau Stiefvater, die neue 3. Rahmen­vereinbarung 2024–2028 in der EGH haben Sie mit verhandelt und gestaltet – jetzt gehen Sie in Rente. Wie geht es Ihnen damit?

Hanne Stiefvater: Ich habe Höhepunkte sowie herausfordernde und zugleich berührende Situationen in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf erlebt.

Dazu zählen vor allem die Begegnungen mit Menschen mit Behinderung, von denen viele ein Mehr an selbstbestimmtem Leben gewonnen haben, und die vielen Begegnungen mit unseren Mitarbeiter*innen, denen wir im Transformationsprozess viel abverlangt haben und die unsere Wege engagiert mitgegangen sind. Und dazu zählen die Versetzung des elenden Altarbildes unserer Stiftungskirche aus der NS-Zeit und die Eröffnung unseres Lern- und Gedenkortes.

Jetzt kann ich sagen: Man soll gehen, wenn es am schönsten ist. Das Feld ist bestellt, es ist viel in den Strukturen, auch in der Zusammenarbeit mit anderen Trägern in der Stadt und der Sozialbehörde, und in der ESA erreicht worden – zugleich bleibt Inklusion eine Generationenaufgabe.

Nach 45 Berufsjahren freue ich mich nun auf den neuen Lebensabschnitt, vor allem auf meine Enkelsöhne. Unsere Familie wird mit Zwillingen im Februar nun noch größer. Ein super Timing!

 

Das Interview führte Marion Förster.
Der Artikel erschien ursprünglich im alsterdorf Magazin 01 2024.

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