Wechsel im Vorstand: Nach fast 25 Jahren in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf geht Vorständin
Die Vorstellung, dass das Anstaltsgelände aufgelöst wird, warf viele Fragen bei den ehemaligen Anstaltsbewohner*innen auf: Wo werde ich wohnen, wie werde ich leben, wie wird die medizinische Versorgung im Stadtteil sein oder werde ich dort an den Rand gedrängt? Und wir haben ja auch solche Dinge erlebt.
Es gab zum Beispiel Proteste und eine Unterschriftensammlung gegen ein neues Wohnhaus im Stadtteil. Und diese Entwicklung zu gestalten, dranzubleiben an einer Vision und hartnäckig und konsequent im Team daran zu arbeiten, das war ein großes Glück und auch eine große Lernerfahrung für mich.
Eine Ihrer ersten Aufgaben war es, eine geschlossene Wohngruppe für 19 Männer aus dem KarlWitteHaus (KWH) beim Auszug zu begleiten – Männer, die rund 30 Jahre geschlossen gelebt hatten.
Als Erstes hatten die Kolleg*innen im KWH eine Tagesförderstätte aufgebaut. Über Arbeit und Beschäftigung ist viel in Bewegung gekommen bei den einzelnen Männern. Die Wohnungssuche war dann ganz schön herausfordernd und wir brauchten kreative Lösungen und Partner*innen in der Wohnungswirtschaft. Zum Beispiel neun der Männer, die ausgezogen sind, sind in den Ratsmühlendamm gezogen. Das war wohl ein ehemaliges Bordell.
Das hat sich aber sehr geeignet, denn alle Einzelzimmer hatten ein Bad und einen schönen Gemeinschaftsraum. Wir haben schon verrückte Sachen gemacht und unkonventionelle Lösungen gefunden, damit es gelingt. Ohne den Zusammenhalt von Führungskräften und Mitarbeiter*innen hätte es auch nicht geklappt.
Dass sie selber entscheiden können: Wo will ich arbeiten, wie will ich meine Freizeit verbringen. Ich habe damals auf dem Stiftungsgelände im Karl-Witte-Haus gesehen, wie die Menschen dort gelebt haben, im 6. Stock, dort lebten nur Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf. Es standen zehn Menschen im Rollstuhl, die alle nicht sprechen konnten, irgendwie zusammengeschoben in einem Aufenthaltsraum. Und da habe ich gedacht: Das kann nicht sein, wir müssen das verändern. Und damit hat mich die Stiftung gepackt.
Neue Formen der Eingliederungshilfe brauchten auch andere Formen der Finanzierung. Sie haben maßgeblich das sogenannte Trägerbudget mit entwickelt. Was bedeutet das für die konkrete Arbeit?
Dies zu organisieren, dass der Einzelne auch wirklich in der Gesellschaft, zum Beispiel bei Freizeitaktivitäten im Stadtteil, teilnehmen kann – das geschieht nicht von allein. Wir finden immer wieder Strukturhemmnisse, die es den Menschen nicht ermöglichen, teilhaben zu können.
Und jetzt ist die Frage: Wer arbeitet eigentlich an inklusiven Strukturen? Dafür braucht es natürlich auch Ressourcen, das muss jemand machen. Und die Mitarbeiter*innen, die an der Seite des Menschen mit Behinderung sind, die haben nicht noch Kapazitäten, dafür zu sorgen, dass im Stadtteil die Strukturen inklusiv sind. Das heißt, wir brauchen dafür Möglichkeiten und Ressourcen, neue, kreative Finanzierungsmodelle – und das ermöglicht unter anderem das Trägerbudget.
Begleitend haben Sie in der ESA das Prinzip der Sozialraumorientierung in der Eingliederungshilfe mit eingeführt und weiterentwickelt. Wie hat das die Arbeit mit Menschen mit Behinderung verändert?
Da haben wir in den vergangenen 15 Jahren viel gelernt und es ist ja auch noch nicht zu Ende. Wir bringen nun die Akademie für Sozialraumorientierung und Inklusion auf den Weg, um diesen Ansatz Führungskräften und Mitarbeitenden nahezubringen und sie zu begleiten. Im Grunde entsteht auch ein neues Berufsbild.
Im Jahr 2023 wurde vom Vorstand und den Führungskräften die Strategie für 2024–2028 entwickelt. Was sind die Schwerpunkte?
Schlüsselpersonen, die über lange Jahre im Unternehmen waren, gehen jetzt in den Ruhestand. Und es kommen junge Leute nach, die haben andere Schwerpunkte, andere Kompetenzen, sie arbeiten anders zusammen und haben ganz andere Anforderungen an die Arbeit, an das Miteinander. Das berücksichtigen wir in unseren strategischen Überlegungen.
Darüber hinaus haben wir acht Handlungsfelder benannt, die wir konkret gestalten wollen, unter anderem das Thema Nachhaltigkeit oder die Unterstützte Kommunikation in allen Arbeitsbereichen.
Die Strategie wurde in einer Zeit entwickelt, die von vielen Veränderungen und Unsicherheiten geprägt ist: Die Folgen der Coronapandemie, eine alternde Gesellschaft und der Fachkräftemangel, der Klimawandel und antidemokratische Bewegungen sind nur einige davon.
Wie können wir unsere eigenen Organisationsstrukturen in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf inklusiv weiterentwickeln?
Frau Stiefvater, die neue 3. Rahmenvereinbarung 2024–2028 in der EGH haben Sie mit verhandelt und gestaltet – jetzt gehen Sie in Rente. Wie geht es Ihnen damit?
Dazu zählen vor allem die Begegnungen mit Menschen mit Behinderung, von denen viele ein Mehr an selbstbestimmtem Leben gewonnen haben, und die vielen Begegnungen mit unseren Mitarbeiter*innen, denen wir im Transformationsprozess viel abverlangt haben und die unsere Wege engagiert mitgegangen sind. Und dazu zählen die Versetzung des elenden Altarbildes unserer Stiftungskirche aus der NS-Zeit und die Eröffnung unseres Lern- und Gedenkortes.
Jetzt kann ich sagen: Man soll gehen, wenn es am schönsten ist. Das Feld ist bestellt, es ist viel in den Strukturen, auch in der Zusammenarbeit mit anderen Trägern in der Stadt und der Sozialbehörde, und in der ESA erreicht worden – zugleich bleibt Inklusion eine Generationenaufgabe.
Nach 45 Berufsjahren freue ich mich nun auf den neuen Lebensabschnitt, vor allem auf meine Enkelsöhne. Unsere Familie wird mit Zwillingen im Februar nun noch größer. Ein super Timing!
Das Interview führte Marion Förster.
Der Artikel erschien ursprünglich im alsterdorf Magazin 01 2024.
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